Alarmstichwort “Akutes Koronarsyndrom”. Bei Ankunft in der Reha-Klinik sitzt eine sonst rüstige Rentnerin auf einem Stuhl. Seit drei Tagen gehe es ihr zunehmend schlechter. Insbesondere die Übelkeit mit Erbrechen sowie die Abgeschlagenheit belasten sie. Sie fühle sich „durcheinander“ und wolle schon gar nicht mehr trinken, weil sie sich vor dem Erbrechen fürchtet. Als dann noch einmalig Schmerzen in der Brust aufgetreten sind, hat sie das heute in der Visite erwähnt. Du hakst bei den Thoraxschmerzen nach und erfährst, dass diese weder ausstrahlen noch belastungsabhängig waren.
Ein unauffälliges Vor-EKG vom Aufnahmetag liegt ebenfalls vor. Im aktuellen 12-Kanal-EKG wurden neue Veränderungen erkannt und als Ischämiezeichen gedeutet, daher wurde der Rettungsdienst gerufen.

Wie gehts weiter?
Aufgrund der Anamnese und den EKG-Veränderungen hast du einen Verdacht und lässt dir die Medikamentenliste geben:
Marcumar n. INR, Ramipril 5 1-0-1/2, Simvastatin 20 0-0-1, Novodigal® 0,2 1-0-0, Verapamil 120 1-1-1, Torasemid 10 2-1-0
Ein Medikament dieser Liste fällt dir besonders auf. Nun ergänzt du die Anamnese durch die Frage nach Störungen in der Farbwahrnehmung (welches die Patientin allerdings verneint). Dennoch hast du eine Verdachtsdiagnose, zu der sowohl die Symptome (außer den Thoraxschmerzen, die waren eher muskuloskelettaler Genese) als auch das EKG sehr gut passen.
Das EKG zeigt muldenförmige ST-Senkungen in nahezu allen Ableitungen, diese sind nicht einem koronaren Versorgungsgebiet zuzuordnen. Außerdem besteht eine Sinusbradykardie.
Dieses sind typische EKG-Veränderungen für eine Digitalis-Intoxikation.
Du verzichtest auf eine Medikamentengabe, die auf die Therapie eines ACS abzielen und transportierst in die Klinik. Du findest noch heraus, warum sie Digoxin einnimmt (bei paroxysmalem Vorhofflimmern mit tachykarden Episoden, aktuell ist sie ja im Sinusrhythmus).
In der Klinik bestätigt sich die Digoxin-Intoxikation (Spiegel 3,96 µg/l [therapeutischer Bereich: 0,90 µg/l – 2,00 µg/l]. Zusätzlich sind die Nierenretentionswerte erhöht (GFR 32 ml/min., Creatinin 1,81 mg/dl). Eine chronische Niereninsuffizienz hatte sich verschlechtert und war dann weiter durch mangelhafte Flüssigkeitsaufnahme akut geworden. Dadurch konnte die Niere Digoxin nicht mehr ausreichend ausscheiden und es reicherte sich im Blut an.
Nach drei Tagen telemetrischer Überwachung, i.v.-Flüssigkeitsgabe und natürlich Absetzen von Digoxin konnte die Patientin in die Reha-Einrichtung zurückverlegt werden.
Achtung:
Bei Hebung in aVR und Senkungen in mehr als 6 Ableitungen muss man an ein sogenanntes “Hauptstamm EKG” denken. Dieses geht typischerweise mit horizontalen bzw. deszendierenden Senkungen einher und ist hinweisend für eine Minderperfusion großer Myokardanteile z.B. durch Hauptstammstenose (oder auch bei myokardialer Verletzung Typ II etwa durch Anämie, Sepsis, Tachykardie oder Aortenstenose). Mehr Infos zu “Hochrisiko-EKGs” gibts im Video mit Klaus.
Bei dem EKG aus dem obigen Fall spricht die Morphologie der Senkungen (“Hockey Stick” oder “Dali Bart”) sowie die Klinik jedoch klar dagegen.
Hier im Vergleich ein typisches Hauptstamm-EKG:

Learning points:
- Symptome einer Digitalis-Intoxikation können unspezifisch sein (gastrointestinal: Übelkeit, Erbrechen, ZNS: Verwirrtheit, Schwindel, Abgeschlagenheit, Auge: Sehstörungen, insbesondere bei der Farbwahrnehmung [gelb], Herz-Kreislauf: (Prä-) Synkopen).
- Digitalis-Intoxikationen können sowohl zu lebensbedrohlichen Bradykardien als auch Tachykardien (z.B. bidirektionale ventrikuläre Tachykardie) führen, dann ist ggf. Antidotgabe notwendig.
- Digoxin wird hauptsächlich renal eliminiert. Bei eingeschränkter Nierenfunktion oder gar Verschlechterung derselben ist zu überprüfen, ob die Gabe ein positves Nutzen-/Risiko-Verhältnis erfüllt, ggf. Umstellung auf Digitoxin.
- Vom Ausmaß der EKG-Veränderungen kann nicht direkt auf die Höhe des Digoxin-/Digitoxin-Spiegels geschlossen werden.
- Da teilweise die Differenzierung zwischen Digitalis-Intoxikation und Hauptstamm EKG / myokardialer Verletzung Typ II schwierig sein kann, sollte bei unklarem Befund in beide Richtungen gedacht und gehandelt werden!
Hallo Steffen, danke für den Fall!
Mein erster Gedanke beim EKG war tatsächlich nicht das “Hauptstamm-EKG”, dort sind die ST-Änderungen ja irgendwie “schärfer definiert”, sondern Hypokaliämie, gerade auch mit der Anamnese. Hypokaliämie käme ja, auch mit dem EKG, auch als DD in Frage oder? Inwiefern kann man denn anhand des EKGs die Digoxin-Intoxikation von der Hypokaliämie abgrenzen?
Hallo Felix,
ein sehr guter Gedanke! Hypokaliämie kann in dieser Konstellation auf jeden Fall auch als DD in Frage kommen (Klinik + Schleifendiuretikum).
Ich finde, dass bei den Digoxin-bedingten EKG-Veränderungen der Übergang von der ST-Strecke zur T-Welle eher steil ansteigend ist:
https://litfl.com/digoxin-effect-ecg-library/ (siehe das Bild mit Salvador Dali).
Beim Hypokaliämie-EKG ist dieser Übergang eher etwas weicher und weniger steil:
https://litfl.com/hypokalaemia-ecg-library/ (siehe die EKG-Bilder dort)
Die EKG-Veränderungen ähneln sich definitiv.
Sehr lehrreiches Beispiel. Ganz toll erläutert und erklärt.Persönlich glaube ich, dass das EKG vom Vortag auch schon (ähnlich ) ausgesehen haben muss. Danke für diesen Fall.
Danke für´s Feedback! Ein EKG vom Vortag hätte vermutlich ähnlich ausgesehen. Es gab aber nur ein EKG vom Aufnahmetag und der lag schon einige Tage zurück. Dieses EKG zeigte einen Normalbefund.