NERDfall Nr. 07: Eine ganz normale Einweisung?

Uuuund weiter geht es! Hier kommt der letzte NERDfall in 2020. Wahnsinn, wie die Zeit vergeht… die NERDfälle gibt es jetzt schon seit 7 Monaten! Nach wie vor sind wir absolut überwältigt von eurem Interesse und der Teilnahme an diesem Format und wollen euch an dieser Stelle einmal ganz herzlich für all die anregenden Diskussionen sowie eurem großartigen Feedback DANKE sagen!
…jetzt aber viel Freude mit Fall Nr.07! 🙂


Am Mittag eines eiskalten Wintertages wird die Besatzung eines NEFs ohne Sonderrechte zu einer KTW-Einweisung nachgefordert. Auf Grund dieser Einsatzmeldung geht die NEF-Besatzung von einer unkritischen Situation aus. Nach der etwa 15-minütigen Anfahrt wird daher lediglich das Monitoring sowie eine Schreibunterlage samt Protokoll mit in den zweiten Stock genommen. Doch beim Betreten der Wohnung und dem ersten Anblick der auf dem Sofa sitzenden Patientin ändert sich diese Einschätzung schnell:

Die etwa 50-jährige Patientin befindet sich – auf den ersten Blick erkennbar – in deutlich reduziertem Allgemeinzustand. Zudem wirkt sie agitiert und tachypnoeisch, im Gesicht fällt eine leichte Marmorierung auf. Laut der ebenfalls anwesenden jugendlichen Tochter bestehe bei ihrer Mutter seit dem Vortag ein fieberhafter Infekt mit bisher eigentlich nur leichtem Husten und einmaligem Übergeben. Der Husten sei wohl trocken, das Übergeben soweit unauffällig gewesen. Nachdem sie bei ihrer Mutter nun aber seit einigen Stunden auch eine rasch zunehmende “Müdigkeit” beobachten könne, habe sie selbst telefonischen Kontakt zur Hausärztin ihrer Mutter aufgenommen. Diese habe am Telefon zugesichert, eine Klinikeinweisung zu veranlassen und das Telefonat daraufhin beendet. Die Patientin macht mit einer abfälligen Handbewegung deutlich, dass sie von den Sorgen Ihrer Tochter nicht viel hält. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter scheint insgesamt ein wenig angespannt zu sein. Die Wohnung erscheint ordentlich, macht insgesamt aber einen eher “heruntergekommenen” Eindruck.
Die KTW-Besatzung berichtet, überhaupt keine Einsicht für die Durchführung der Einweisung bei der Patientin erzielen zu können. Sie verweigere jede Maßnahme, wolle eigentlich nur in Ruhe gelassen werden und schlafen. Ein Einweisungsschein läge vor, jedoch habe die Tochter diesen selbst abholen müssen – die Hausärztin selbst sei nie vor Ort gewesen. Tragestuhl und Notfallkoffer des KTWs sind bereits in der Wohnung. 

Aufgebrachtes “Ich möchte das nicht” und leichte Ausweichbewegungen der Patientin erschweren die Durchführung jeglicher Maßnahmen. Echten Widerstand leistet die Patientin beim Anbringen eines Basismonitorings und einer körperlichen Untersuchung dann aber doch nicht. Bei einer Atemfrequenz von 24/min lässt sich unter Raumluft eine SpO2 von 97% ableiten. Die Rekap-Zeit beträgt vier Sekunden, die Herfrequenz liegt bei 110/min. Der Blutdruck ist bei 110/70 mmHg. Zudem wird ein 12-Kanal EKG abgeleitet (siehe unten). Die Patientin präsentiert sich motorisch insgesamt unruhig und fingert ständig an den Kabeln und ihrer Kleidung herum. Eine Temperaturmessung ergibt 39,2°C. Bei der Auskultation der Lunge fallen basal beidseits feinblasige RGs auf. Eine orientierende Herzauskultation über Erb bleibt o.p.B.. Das Abdomen stellt sich weich und nicht druckdolent dar, die Peristaltik scheint unauffällig. Letzter Stuhlgang und Wasserlasen seien wohl ebenfalls unauffällig gewesen. Schmerzen werden verneint. Am linken Oberbauch fällt eine fast 20 cm große, quer verlaufende OP-Narbe auf. Beim Hochschieben ihrer Jogginghose zeigen sich von beiden Patellae ausgehende – etwa zwei Handflächen große – Marmorierungen der Haut. Zudem bestehen beidseits leichte Knöchelödeme.
Die Patientin zeigt sich zu allen Qualitäten orientiert, reagiert auf Nachfragen jedoch deutlich verlangsamt und scheint manche Fragen einfach zu “überhören”. Eine orientierende neurologische Untersuchung liefert jedoch keinen Anhalt für ein fokal neurologisches Defizit. Ein Meningismus besteht nicht. PERRLA. Erst nach zweimaliger Nachfrage gibt die Patientin an, Escitalopram sowie – wegen gelegentlicher Kopfschmerzen – ab und zu Ibuprofen einzunehmen.  Somatische Vorerkrankungen und Allergien bestünden keine. Bei der Frage nach dem letzten Hausarztbesuch schaut sie fragend zu ihrer Tochter, diese zuckt nur hilflos mit den Schultern. Sie ergänzt jedoch, dass ihre Mutter vor zwei Jahren einen schweren Rollerunfall in Bulgarien hatte, nachdem ihr ein Organ entnommen werden musste. Welches Organ, das könne sie nicht genau sagen. Die Patientin zeigt hierauf auf ihre OP-Narbe und zuckt ebenfalls nur mit den Schultern. 

Nach telefonischer Rücksprache mit der Leitstelle wird klar, dass der nächste RTW witterungsbedingt etwa 25 Minuten zum Einsatzort benötigen würde. Ein Rendezvous auf dem Weg zur Klinik ist wegen unterschiedlicher Fahrtrichtungen nicht möglich.


12-Kanal EKG:
Zu sehen ist hier eigentlich das EKG bei Klinikaufnahme.
Das präklinische EKG sah aber auch so aus. 🙂


Aber jetzt geht der Ball wieder an euch!


Was sind deine Gedanken?

Wie würdest du handeln?

Was soll gegenüber der Leitstelle kommuniziert werden?




Wir freuen uns wie immer (!) auf euren Austausch und die Diskussionen zum Fall. Lasst all die anderen Nerds unbedingt an euren Gedanken teilhaben! 🙂

Autor: Navid Azad

An der Notfallmedizin reizen mich ihre Vielseitigkeit, das pragmatische Arbeiten mit menschlicher Physiologie, die mentalen Aspekte des Arbeiten unter Drucks und die vielfältigen gesellschaftlichen Einblicke.

9 Gedanken zu „NERDfall Nr. 07: Eine ganz normale Einweisung?“

  1. Für mich aus dem Bereich der Präklinik präsentiert sich der Patient mit einem kritischen C Problem sowie begleitenden B und E Problemen.
    Dieser Patient ist kritisch zu Betrachten.
    Verdachtsdiagnosen:
    Sepsis da qSofa 2/3 positiv, unklarer Genese, mögliche Ursache die unklare OP am Oberbauch oder infolge einer Pulmonalen Infektion.

    DD: interstitielle Lungödem unklarer Genese, Cardiogen würde ich in Folge des EKG, SR-tachykardie im Steiltyp und fehlender Anamnese auf die lange Bank schieben.
    DD: kompensiert / Beginnder Dekompensierter hypovolämer Schock unklarer Genese. Fragliche Anämie oder inerer Blutungen. Hier könnte aufgrund der Lokalisation der Narbe die fehlende Milz die Ursache sein.
    DD: Bakterielle/Virale Infektion im Stadion einer Sepsis.
    Zur Zeit meist verbreitet als Leitbild die Sars-Cov-2 Infektion.

    Für mich als Rettungsdienstler stehen die Vitalparamer im Vordergrund.
    15L Sauerstoff via Maske, kompletter Monitor, engmaschige RR-Messung, Volumengabe 2x 500ml Konto o.ä. Krist. Lösungen als Bolus über 2 Zugänge.
    Ketacholamin-Perfusor, Bsp. Noradrenalin kann man sich ins Gedächtnis rufen, jedoch nur bei aktiver Verschlechterung des AZ anzuwenden.
    Wärmeerhalt beachten, gerade bei den Witterungen.

    Anmeldung eines Schockraumes im nächstes Haus der Maximalversorgung mit Intensivbett und klarer Kommunikation der Verdachtes auf Sepsis und potenzieller Covid-Symptomatik.

    Sollte der Patient darauf bestehen vor Ort bleiben zu voll ist dies sein gutes Recht.
    Er ist voll Orientiert, alt genug , steht unter keinem Einfluss von Rauschmitteln etc. , Hat eine Perserson welche auf ihn aufpassen kann.

    Es bedarf einer klaren Aufklärung über Risiken und gefahren und das die Möglichkeit des Versterbens bei ausbleibender Therapie im Raum steht.

    So viel zu meinen Gedanken.
    Grüße und Entschuldigung für mögliche Rechtschreibfehler.

  2. Zunächst ist sie als kritisch einzustufen.
    Als Verdachtsdiagnose würde ich die Sepsis anbringen, wobei der Infektherd bei der Lunge liegt.
    Sie braucht eine Volumentherapie, Sauerstoff, ggf Katecholamine um den RR zu heben (wenn indiziert) und eine gute Voranmeldung in der Klinik wobei man unbedingt auf eine Sepsis hinweisen muss!
    Und da Corona im Raum steht, eine Isolierung. Ach genau, der Eigenschutz steht hier außerdem an erster Stelle. Und da man ja vermutlich hochdosiert O2 geben muss: FFP3 Maske, Overall, Schutzbrille, Einweghandschuhe.

  3. Habs noch mal nachgelesen: mein Tip ist OPSi und Waterhouse-Fridrichsen Syndrom also am ehesten Meningokokkensepsis.
    Danke Ihr Lieben für Eure Mühe und Euern tollen Kanal!!! K. Steinhoff

  4. Tja, wenn die Patientin, wie hier beschrieben, zu allen vier Qualitäten orientiert ist, dürfen wir sie nicht transportieren, seht ihr das auch so? Wie es aussieht, wenn die Patientin das Bewusstsein verliert, weiß ich nicht.

  5. Z.N Splenektomie? OPSi?Pneumokokkenpneumonie bds? Auf jeden Fall schweres, sept. Krankheitsbild., schnell ins nächste Krankenhaus mit sehr guter Ausrüstung. K. Steinhoff

  6. Septisches Zstb., qSOFA pos. 2/3 Pkt., Zentralisationszeichen
    I.e.L. von pulmonalem Focus auszugehen
    Diagnostisch eventuell noch mit Lungensono zu komplettieren (Ergüsse, B-Lines, Hepatisierungszeichen im Rahmen einer Pneumonie, DD: SARS-Cov2!)
    Ev. art. BGA wenn möglich

    Th:
    Eigenschutz (komplette Schutzausrüstung)
    Ausreichende Oxygenierung: O2, NIV
    Volumenbolus mit Kristalloiden, +/- Kat.
    Voranmeldung, auch in Hinglick auf COVID-Verdachtsfall

  7. V. a pneumogene Sepsis mi beginnender Schocksymptomatik DD i. R der Covid – Infektion ( qSOFA Score 2/3 , basale RGs , Marmorierungen der Haut –> Hypoperfusion)
    Volumgabe einleiten mit eventuell Arterenol falls Kreislaufinsuffizienz und NIV – Beatmung , ggf. 3 mg Morphin spritzen. Leitstelle –> Sepsisbild mit V. a pulmonalem Infektfokus. Zuerst Isolationpflicht midestens IMC – Station.

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