NERDfall Nr. 08 – Teil 1: Na nu? Was ist denn hier los?

Und damit herzlich willkommen zum ersten NERDfall des Jahres 2021!

Wir hoffen zum Einen, dass ihr nicht so ratlos ins neue Jahr gestartet seid, wie es die Rettungsdienstler des Falls plötzlich wurden und zum Anderen, dass ihr auch trotz der leidigen Lage noch ein paar Energiereserven für das Rätseln am heutigen, knackigen Fall mobilisieren könnt – Also viel Spaß bei NERDfall Nummer 8!

Wir befinden uns gemeinsam mit einer erfahrenen RTW-Besatzung auf der Anfahrt zu einem unscheinbaren Meldebild. Die Kollegen tauschen sich entspannt über ihre nächsten Urlaubspläne, die Schulnotensituation ihrer Kinder und natürlich das Neuste aus der FOAM-Welt aus.
Nach 17min Anfahrt erreichen sie die angegebene Adresse und werden vor dem Gartentor vom augenscheinlichen Ehemann in Empfang genommen. Er hält ein ca. 9 Monate altes Kind auf dem Arm, welches sich scheu an den Hals des Vaters drückt.
Er macht einen etwas rat- und hilflosen Eindruck und führt das Team in den 1. Stock. Auf dem Weg erzählt er, dass er vor ca. 45min, an seinem „kurzen“ Tag, von der Arbeit gekommen sei und seine Frau ihn etwas fertig begrüßt hätte. Sie hätte über Übelkeit und Schwindel geklagt und wollte sich daher kurz hinlegen. Er kümmerte sich also um den Sohn und wollte ihr 10min später noch einen Tee ans Bett bringen. Dabei sei er aufgrund ihrer plötzlichen Gesichtsblässe fast erschrocken und entschloss sich, den gemeinsamen Hausarzt anzurufen. Der Anrufbeantworter hätte ihn jedoch gleich auf die Praxisferien aufmerksam gemacht und er sich daher nach kurzem Hin- und Her entschieden, die 112 zu wählen.

Die Retter haben inzwischen die Treppe erklommen und es bietet sich ihnen folgendes Bild: Die zierliche Patientin kauert im halbdunklen Flur, zwischen Schlaf- und Badezimmer, auf dem Boden. Blickkontakt nimmt sie keinen auf, einem Wechsel auf das nahegelegene Bett stimmt sie aber mit einem Nicken zu. Die schwache Patientin muss beim Standortwechsel tatkräftig von beiden Seiten unterstützt werden. Sie fühlt sich normotherm und nicht schweißig an.
Dem Nachwuchs scheint das ganze Spektakel nicht geheuer und er fängt an zu weinen. Da die Kollegen die leisen Antworten auf die nun gestellten Fragen nicht verstehen können, entfernt sich das Vater-Sohn-Duo ins benachbarte Kinderzimmer und schließt hinter sich die Tür.
Das Team ist jetzt also alleine mit der im Licht sichtbar blassen Patientin. Es fällt außerdem eine stark erhöhte Atemfrequenz von fast 40 Zügen/min auf. Der Rettungsassistent kommuniziert einen fehlenden peripheren Puls; an der A. carotis sei er ebenfalls schwer zu tasten und deutlich tachykard. Die Rettungssanitäterin reicht dem Kollegen Blutdruckmanschette und Stethoskop und macht sich direkt auf zum Fahrzeug, um das restliche Equipment zu holen. Dem Vorschlag unten gleich über Funk einen Notarzt nachzufordern, stimmt der hochkonzentrierte Rettungsdienstler zu.

Die begonnene Anamnese gestaltet sich durch die unvollständigen, wenn nur einsilbigen, Antworten genauso mühsam, wie das Blutdruckmessen. Bis auf einmaliges Erbrechen kurz vor RD-Eintreffen und den Symptombeginn um kurz nach 13h, fördert sie auch keine wirklich handfesten Informationen zutage. Der systolische Druck wird der zurück gekehrten Kollegin bei vermutlich 40mmHg kommuniziert. Aufschluss über die schlussendliche Frequenz müsse das EKG liefern. Simultan zum Anbringen der Elektroden, wird gekonnt ein 18G i.v. Zugang in der Ellenbeuge etabliert. Die Vigilanz der Patientin nimmt indes weiter ab.
Schon der erste Blick auf den Monitor lässt die Besatzung große Augen machen; kurz darauf hält der RA dann diesen Ausdruck in den Händen:

Das Pulsoxy liefert unzuverlässige Werte; die zyanotischen Lippen sprechen jedoch eine deutliche Sprache. Auskultiert werden beidseits vesikuläre Atemgeräusche und auch die restliche körperliche Untersuchung erbringt keine Auffälligkeiten. Beim situationsadaptierten Neurocheck leuchtet die Rettungssanitäterin in große Pupillen. Sie scheinen ihr selbst für den unruhigen, hyperventilierenden Patientenzustand ziemlich weit. Die sonstige neurologische Untersuchung bringt, bei generell schwachem Muskeltonus und eingeschränkter Durchführbarkeit, keine weiteren Erkenntnisse.
Aus der Ferne nähert sich nun schon unüberhörbar die Sirene des NEFs. 

Zusatzinfo 15.01.2021:
Nach einer knackigen Übergabe delegiert der Notarzt das Aufziehen von Amiodaron und Dobutamin. Die Patientin erhält mittlerweile 10l Sauerstoff über eine Maske und die NEF-Fahrerin begibt sich zur genaueren Fremdanamnese ins Nachbarzimmer. Die Patientin beginnt fokal im linken Arm zu krampfen. Nach ca. 15 Sekunden sistiert das Geschehen spontan.
Die NEF-Fahrerin kehrt zurück zum Hauptschauplatz und verkündet postpartale Depressionen. Der Ehemann sei bereits auf der Suche nach den Medikamenten; die begleitende Gesprächstherapie laufe jedoch gut. Sonst bestünden keinerlei Vorerkrankungen; allergisch sei sie nur gegen einige Pollenarten.
Vater und Sohn kommen mit einer angebrochenen Packung Sertralin zurück.
Es fehlen 6 Tabletten à 50mg. Sie nehme täglich eine und da er letzte Woche erst mit dem Folgerezept in der Apotheke war, müsste der Verbrauch auch hinkommen. Suizidale Gedanken hätten nur kurz zu Therapiebeginn vor einigen Wochen bestanden. Er kniet sich besorgt, mittlerweile auch etwas panisch, neben seine Frau, doch auch ihm liefert sie keine Antworten.

Zusatzinfo 17.01.2021:
Die Patientin ist in zwischen kaltschweißig und erbricht erneut;
Tablettenreste o.Ä. sind keine zu entdecken. Der Notarzt entscheidet sich bei akut-kritischer Patientin und weiter abnehmender Vigilanz für eine Intubation. Das Team wird gebrieft, alle gehen in Position, Reanimationsbereitschaft wird hergestellt.
Die geplanten Schritte greifen koordiniert ineinander und das riskante Manöver gelingt mit Hilfe von Etomidat, Fentanyl & Succinylcholin auf Anhieb.
Mit dem mittlerweile organisiertem Perfusor für das Dobutamin und dem Amiodaron lassen sich die inzwischen unberechenbaren Herzfrequenzschwankungen von 35-190 bpm auf ca. 100-150 bpm bei einem Blutdruck von 90/40 mmHg eingrenzen.
Während einer bradykarden Episode konnte noch dieses EKG-Bild eingefangen werden:

Und damit geht der Ball wieder an euch:


  1. Wie lautet deine Übergabe?
  2. Wie sieht das weitere Vorgehen für dich aus?
  3. Welche Verdachtsdiagnose/n steht/stehen deiner Meinung nach im Raum?

Teile natürlich wie immer gerne auch andere relevante Gedanken, die dir zum Fall in den Kopf kommen.

[Der Einsatz ereignete sich ca. zur Jahrtausendwende – alle folgenden durchgeführten Maßnahmen sind dementsprechend zu werten; bezieht euer gedankliches Handeln aber natürlich gerne auf die Gegenwart.]


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(Teil 2 gibt’s inzwischen hier – Viel Spaß!)

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