Steffen hat wieder einen tollen EKG Fall mitgebracht, der die Herzen schneller schlagen lässt…
Der Patient Mitte 70 wird aus dem Pflegeheim in die Notaufnahme gebracht. Er sei gestern erst aus dem Krankenhaus entlassen und dort aufgrund eines urologischen Problems behandelt worden. Dieses Mal sei er mit einer Vigilanzminderung aufgefallen. Das präklinische Team hatte eine Hypotonie und Tachykardie festgestellt, konnte aber auch eine neurologische Ursache nicht ausschließen. Sie melden diesen Patienten mit V.a. septischen Schock für den Schockraum an.
Im Schockraum zeigt sich am Monitor eine Herzfrequenz von 163/min. bei einem Blutdruck von 80/43 mmHg. GCS liegt bei 13, Temperatur: 36,3°C. Atemfrequenz ist 20/min., somit qSOFA bei 2 (wäre die Atmung bei 22/min. wären es sogar 3 qSOFA-Punkte). Eine Herzinsuffizienz sei vorbekannt und eine orale Antibiose bei Harnwegsinfekt sei im Heim gegeben worden, wird in der Übergabe erwähnt. Erwartungsvoll schaut der Notarzt auf den Medikamentenschrank, in dem er die Antibiosen vermutet. Nichtsdestotrotz bist du bei normothermen Patienten noch nicht komplett von der Verdachtsdiagnose überzeugt und schaust du dir in Ruhe das 12-Kanal-EKG an (Abb.1).

Der Computer-Algorithmus gibt dir folgende Auswertung als Hilfestellung: „Sinustachykardie, HF: 163, Rechtsobenachsenabweichung. Abnormales EKG“
Du entscheidest dich für…
(Fortsetzung weiter unten)
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Du kannst vor den QRS-Komplexen auch jeweils eine P-Welle abgrenzen. Aufgrund der Tachykardie bleibst du skeptisch insbesondere da sich aktuell keine anderen Ursachen für den Schock aufdrängen. Du misst die Strecke zwischen den beiden P-Wellen und suchst in der Mitte nach einem weiteren P. Trotz ausführlicher Suche in sämtlichen Ableitungen kannst du keine weitere P-Welle erkennen. Dir kommt die so genannte Bix-Regel[1] in den Sinn. Demnach ist jede Schmalkomplex-Tachykardie mit sichtbaren P-Wellen bis zum Beweis des Gegenteils erst einmal als Vorhofflattern anzusehen, vor allem wenn sich die (nicht sichtbare) P-Welle im QRS-Komplex verstecken könnte. Bestenfalls kann man in der Mitte zwischen zwei sichtbaren Ps ein weiteres P innerhalb des QRS identifizieren. Auch in diesem EKG würde sich die P-Welle auf den QRS-Komplex projizieren (Abb. 2), ist aber hier nicht abgrenzbar. Dir fällt auf, dass sich die Herzfrequenz trotz Volumengabe quasi nicht geändert hat: Auch am Rettungsdienstprotokoll wird 162/min bei Eintreffen und 163/min bei Übergabe in der Notaufnahme aufgeführt.Eine plötzlich aufgetretene Sinustachykardie ist somit nicht die wahrscheinlichere Variante.

Man kann versuchen, die P-Wellen mit den Lewis-Ableitungen sichtbar zu machen, um die P-Wellen zu betonen. Dieser Trick wurde hier allerdings nicht versucht.
Mehr zu den Lewis-Ableitungen gibt es hier!
Grundsätzlich ist in dieser Situation zum Nachweis dieser Diagnose ein (modifiziertes) Valsalva-Manöver oder die Gabe von Adenosin möglich, um die P-Wellen zu demaskieren. Ein modifiziertes Valsalva wurde im REVERT-Trial zur Konversion von supraventrikulärer Tachykardie eingesetzt[2], kann aber auch zur Demaskierung eines Vorhofflatterns eingesetzt werden[3].
Da es sich um ein Schockgeschehen handelt und eine sofortige Konversion notwendig ist, wird eine elektrische Kardioversion vorbereitet und unter entsprechender Analgosedierung (cave: Hypotonie) durchgeführt. Zur Prophylaxe eines weiteren Blutdruckabfalls unter Analgosedierung wurde zuvor eine niedrigdosierte Katecholamintherapie mit Noradrenalin begonnen.
Nach einmaliger Schockabgabe zeigt sich nun folgendes Bild:

Die Herzfrequenz beträgt nun 105/min., der Patient hat einen Sinusrhythmus.
Aber so ganz zufrieden bist du immer noch nicht. Denn der Lagetyp hat sich geändert. Darüber hattest du dich gar nicht gekümmert am Anfang. Du schaust dir also noch einmal das 1. EKG an und bemerkst, dass die Extremitätenableitungen I, II, III und aVF einen negativen Vektor haben, dafür aber aVL und aVR positiv. Meinte das der Computer-Algorithmus mit „Rechtsobenachsenabweichung“? Du hegst einen anderen Verdacht als der Algorithmus, der sich bei einem gründlichen Blick auf das 2. EKG bewahrheitet: Das 1. EKG war verpolt.
Du „schleichst“ die Katecholamine aus und freust dich an einem langsam wach werdenden normotensiven Patienten und denkst: Ohne Bix wäre ich vermutlich immer noch am Rätseln, warum es ihm schlecht geht…
Learning Points:
- Traue nicht der automatischen Computer-Auswertung eines EKG
- Bei einer vermeintlichen Sinustachykardie mit einer starren Herzfrequenz von ~ 130-160/min. immer an die Möglichkeit eines Vorhofflatterns 2:1-Überleitung mit im QRS versteckten P-Wellen denken („Siehste nix, vielleicht ist´s Bix.“)
Quellen:
[1] Weiterer schöner Fall zur Bix Regel: Nikolić G. The Bix rule. Heart Lung. 2008 Jul-Aug;37(4):321-2. doi: 10.1016/j.hrtlng.2007.11.003. PMID: 18620109. https://www.heartandlung.org/article/S0147-9563(07)00216-6/fulltext
[2] Appelboam A, Reuben A, Mann C, Gagg J, Ewings P, Barton A, Lobban T, Dayer M, Vickery J, Benger J; REVERT trial collaborators. Postural modification to the standard Valsalva manoeuvre for emergency treatment of supraventricular tachycardias (REVERT): a randomised controlled trial. Lancet. 2015 Oct 31;386(10005):1747-53. https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(15)61485-4/fulltext
[3] Grautoff S. REVERT the diagnosis – Modified Valsalva manoeuvre as a method to differentiate supraventricular tachycardia from atrial flutter. Am J Emerg Med. 2021 Mar;41:251-254. doi: 10.1016/j.ajem.2020.05.105. Epub 2020 Jun 2. PMID: 32591306.
Es bestehen hier durchaus Diff. diagnosen
– Sinusreentrytachy
– atriale Tachy (AVNRT, AV –
Reentry-Tachy)
– Vorhofflattern (besonders bei Älteren mit strukturellen Erkrankungen, oder Z. n. Vorhoffimmerablation)
Eine Diagnose vor Therapie (=CV) ist wünschenswert, weil es zur Langzeit-Therapieplanung hilft.
Mittel der Wahl: Adenosin 12-16mg I. V. in Defi-Nähe unter fortlaufende EKG. Dies ist selbst im Schock möglich, da 1. die Tachy hochwahrscheinlich die Schockursache ist und 2. Adenosin nach 15 Sek. wieder wirkungslos ist. Das Vorhofflattern wäre demaskiert, die CV anschließend wie oben durchgeführt.
Mit der klaren Dokumentation wäre eine definitive Therapie mit extrem hoher Erfolgsrate mittels Ablation spätestens bei einem Rezidiv (noch junger Pat für Pflegeheim, Pat. Wunsch, medikamentös nicht behandelbar) gut möglich.
Danke für die differentialdiagnostischen Anmerkungen!
Aus Sicht des Behandlers war zu diesem Zeitpunkt Vorhofflattern die wahrscheinlichste Diagnose, so dass bei Adenosingabe nur eine diagnostische und nicht therapeutische Wirkung erwartet wurde. Aufgrund des Schockgeschehens erschien eine (wenn auch nur kurzzeitige) komplette AV-Blockierung ohne mechanischen kardiale Auswurfsleistung als zu risikoreich. Daher die Entscheidung primär zur EKV. Das hätte man aber durchaus auch anders entscheiden können (primär Adenosin-Gabe).
Grundsätzlich ist eine gute Dokumentation für eine spätere Planbarkeit von (elektrophysiologischen) Eingriffen immer wünschenswert. Das beginnt bei einem gut geschriebenen 12-Kanal-EKG und beinhaltet auch eine gute EKG-Dokumentation einer Behandlung mit Adenosin.
Noch mehr als im klinischen Setting gilt präklinisch die Wahl der möglichst effektivsten, schnellsten und sichersten Therapie um evtl. Komplikationen/Eskalationen zu vermeiden.
Danke für den Beitrag! Bix rule ist wichtig!
Aber:
1) WIE sollen die Extremitäten denn verpolt gewesen sein? Welche Ableitungen waren vertauscht? Ich kann das gedanklich nicht wirklich rekonstruieren, so dass vorher/nachher zusammenpasst…
2) ich sehe die vermuteten atypischen Flatterwellen. Wenn ich diese aber verfolge (durchzirkel), dann stimmt das Verhältnis zum QRS nach ein paar Schlägen nicht mehr ==> RR Zykluslänge > PP Zykluslänge wenn man die ersten beide Schläge als PP Referenz nimmt – vielleicht war ich am Bildschirm nicht genau genug?
3) m.E. gibt es eine “große” P-Welle vor dem 5 QRS Komplex in der Tachykardie, die der P-Welle im SR genau entspricht !?
Danke für die spannenden Anmerkungen!
Zu 1) Das konnte leider nicht im Nachhinein nachvollzogen werden, welche Ableitungen vertauscht waren.
Zu 2) aus meiner Sicht waren sie passend zu zirkeln (immer im absteigenden Teil der T-Welle). Allerdings ist auch eine nicht unerhebliche Grundlinienschwankung zu sehen, so dass ich das auch nicht mit 100%iger Sicherheit sagen kann.
Zu 3) das hatte ich primär als Artefakt gewertet, aber es ist natürlich schon auffällig, dass die Konfiguration der P-Welle im 2. EKG sehr ähnlich ist. Eine gute Erklärung für eine isolierte P-Welle ohne Veränderung der RR Zykluslänge hätte ich nicht.
Schöner Fall, Steffen!
Danke dafür 🙂
Vielen Dank! 🙂