Augennotfälle sind selten und nicht unbedingt das beliebteste Thema unter uns Notfallmediziner:innen. Gleichzeitig geht es oft nicht um weniger, als das eigene Augenlicht! Um hier also etwas mehr Licht ins Dunkle zu bringen, hat sich NERDfall Nr.20 einem der wenigen “echten” ophthalmologischen Notfälle angenommen. Wir wünschen viel Freude mit der Fallauflösung und dem weiterführendem Material! Und bis zum nächsten Mal! 🙂
Gliederung:
- Auflösung
- Anatomie und Pathophysiologie
- Klinische Präsentation
- Diagnose
- Management im Rettungsdienst
- Management in der Notaufnahme
- Take Home Messages
- Quellen und Weiterführendes
1. Auflösung:
Nachdem die junge Ärztin endlich dazu gekommen ist, sich den Patienten anzusehen, stellt sie zügig den Verdacht eines akuten Winkelblockglaukoms und recherchiert entsprechende Therapieempfehlungen. Da im Haus keine Augentropfen vorgehalten werden, muss man sich mit der iv.-Gabe von 500mg Acetazolamid begnügen, welches zuvor von der Intensivstation geholt werden musste. Insgesamt verstreichen nach Ankunft in der Klinik so weitere 40 Minuten, bis der Patient eine erste zielgerichtete Therapie erhält. In der Zwischenzeit wurde allerdings bereits der dringende Weitertransport in die Augenklinik organisiert, welcher nun von der gleichen RTW-Besatzung durchgeführt wird und etwa 20min andauert. Die Notfallsanitäterin hat ein schlechtes Gewissen und ärgert sich enorm über die Nachlässigkeit beim Umgang mit dem Auge von Herrn Siebenfuß. Sie schwört sich, nie wieder so leichtfertig mit einem einseitig geröteten und schmerzhaften Auge umzugehen.
In der Augenklinik wird nach Ankunft tonometrisch ein Augendruck von noch immer 57mmHg gemessen und die Diagnose eines akuten Winkelblockglaukoms gesichert. Der Augendruck kann in der Folge gut kontrolliert werden, worunter die Beschwerden des Patienten deutlich besser werden. Am Folgetag wird eine Laser-Iridotomie durchgeführt, der Patient kann die Klinik später mit anhaltenden leichten Visus-Einschränkungen verlassen.
2. Anatomie und Pathophysiologie
An dieser Stelle soll es ausschließlich um die Glaukomformen gehen, die sich akut entwickeln und Menschen notfallmäßig die Notaufnahme treiben. Allen voran ist hier das akute Winkelblockglaukom zu nennen.
Was ist ein akutes Winkelblockglaukom?
Das akute Winkelblockglaukom ist eine relativ seltene (~4/100.000/a) Erkrankung, bei dem es wegen einer akuten Verlegung des Kammerwinkels (7) zu einer Abflussstörung des Kammerwassers kommt. Folge ist ein schneller Druckanstieg im vorderen Teil des Auges, welcher einen Druckanstieg im gesamten Auge bedingt und das Auge gegen die Austrittstelle des Sehnervs presst. Dieser kann dabei schwer beschädigt bzw. zerstört werden. Auch andere Teile des Auges können durch den anhaltenden Druck schwer geschädigt werden.
Wie verhält sich das Kammerwasser normalerweise?
Die Epithelzellen des Ziliarkörpers (1) produzieren das Kammerwasser, welches von dort in die hintere Augenkammer (2) freigesetzt wird. Von hier aus zirkuliert es zwischen Iris (3) und Linse (4) hindurch zur Pupille (5), welche es passiert, um dann in die vordere Augenkammer (6) zu gelangen. Von der vorderen Augenkammer aus fließt es in den Kammerwinkel (7), an dessen Ende es über den Schlemm-Kanal (8) in ein Venengeflecht abfließen kann. Der Pfeil in Abb. 1 stellt diesen Fluss dar.

Moment mal. Wozu überhaupt Kammerwasser?
Das ganze Schauspiel dient der Etablierung und Aufrechterhaltung eines physiologischen intraokulären Drucks (IOP) von etwa 10-20mmHg, welcher für die Funktionsfähigkeit des optischen Apparates notwendig ist.
Was passiert nun beim akuten Winkelblock?
Häufigster Pathomechanismus ist der sogenannte Pupillarblock. Er entsteht bei flacher Vorderkammer, wenn die Rückseite der Iris der Linse eng aufliegt. Hierdurch wird der Fluss des Kammerwasser aus der hinteren Augenkammer in Richtung Pupille erschwert, was zu einem Druckgradient zwischen hinterer und vorderer Augenkammer führt. Dieser Zustand nennt sich “relativer Pupillarblock”. Kommt es nun bspw. zu einer Weitstellung der Pupille und der dafür nötigen Iris-Verdickung, kann der Abfluss des Kammerwassers zwischen Iris und Linse in Richtung Pupille vollständig unterbrochen werden – dann liegt ein totaler Pupillarblock vor. In der Folge staut sich das Kammerwasser in der Hinterkammer maximal an und drückt die zarte Iriswurzel nach vorne gegen die Hornhaut bzw. das Trabekelwerk, welches sich unmittelbar vor dem Schlemm-Kanal befindet. Dies ist durch den Pfeil in Abb. 2 dargestellt. Der Abfluss des Kammerwassers aus der Vorderkammer ist nun ebenfalls blockiert, während der Ziliarkörper in der Hinterkammer fröhlich weiter Kammerwasser freisetzt. Die Folge ist ein massiver Druckanstieg im gesamten Auge, der IOP kann Werte bis zu 80mmHg annehmen.

Was passiert dann?
In den meisten Fällen geht ein akutes Glaukom mit erheblichem Krankheitsgefühl einher, der Druckanstieg im Auge ist normalerweise sehr schmerzhaft. Über Reizung von Fasern des Nervus trigeminus kann der Schmerz zudem in Schläfe, Stirn und Kiefer ausstrahlen. Durch den hohen Druck kommt es zu einem Epithelödem der Hornhaut, was diese trübt und für Patient:innen visuellen Eindruck einer Nebelwand erzeugen kann. Zudem kommt es durch direkten Druck auf den Sehnerv ebenfalls zu unmittelbaren Visusproblemen. Zusätzlich findet eine starke vagale Reizung statt, was sich mit Übelkeit, Erbrechen und seltener bradykarden Rhythmusströungen äußern kann.
Welche anderen Pathomechanismen gibt es?
Als seltenere Vertreter des akuten Glaukoms sind Plateau-Iris und ziliolentikulärer Block zu nennen. Details dazu sollen hier nicht aufgeführt werden, können im Internet aber leicht recherchiert werden. 😉
Für Nerds: Während Pilocarpin bei Plateauiris Therapieerfolg durch Engstellung der Pupille verspricht, ist es bei ziliolentikulärem Block kontraindiziert, da es den Pathomechanismus verstärkt. Mehr zu Pilocarpin findet ihr unten.
3. Klinische Präsentation
Klinik:
- Einseitig gerötetes & schmerzhaftes Auge
- Palpatorisch steinharter Bulbus
- Visuseinschränkungen bis völlige einseitige Erblindung (monokulare Visusprüfung!!! siehe unten)
- Hornhauttrübung
- Erweiterte Pupille mit träger oder erloschener Lichtreaktion
- Vegetative Begleitsymptomatik mit Übelkeit und Erbrechen (CAVE: Für Pat. eventuell führend)
- Starke Kopfschmerzen mit Ausstrahlung in Schläfe und Kiefer (N. trigeminus)
- Sehen bunter Farbringe (Halos) um Lichtquellen
- Beginn der Beschwerden häufig nach Wechsel in dunkle Umgebung bzw. nachts oder abends.
CAVE: Allgemeinbeschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Kopf- und Bauchschmerzen können für Patient:innen führend sein und medizinische Teams so auf die falsche Fährte locken. Im Notfall gehört ein kurzer Blick in und Gedanke an die Augen immer dazu!
Risikofaktoren:
- Weibliches Geschlecht (w:m = 2:1)
- Höheres Alter
- Dicke Linse (hohes Alter)
- Bekannte Weitsichtigkeit (Hyperopie)
- Familiäre Glaukom-Vorgeschichte
- Emotionaler Stress
- Anticholinerge oder adrenerge Vormedikation (u.v.m.)
- Asiatische oder Inuit Abstammung
- Unmittelbar vorangegangene lange Nahsicht
Merkhilfe für klassische Glaukom-Konstellation: Ältere, weitsichtige Dame schaut in dunkler Wohnung Sonntag abends Tatort und erschrickt sich dabei.
4. Diagnose:
Differentialdiagnostisch gehört das akute Winkelblockglaukom in die Schublade des einseitig roten & schmerzhaften Auges. Innerhalb dieser Gruppe ist es der zeitkritischste Notfall und muss schnellstmöglich erkannt werden. Wegweisend sind folgende zusätzliche Befunde:
- Harter Bulbus bei Palpation im Seitenvergleich
- Visusminderung bei monokularer Visusüberprüfung*
- Erweiterte und träge/lichtstarre Pupille
*Info: Nur ein Auge betreffende Sehstörungen fallen Patient:innen oftmals nicht auf, da das Gehirn mit dem Input des gesunden Auges Gesichtsfeldausfälle sehr gut kompensieren kann. Die Visus-Überprufung muss daher immer auch für beide Augen getrennt (monokular) erfolgen.
Bei Konstellation dieser Beschwerden sollte im Zweifel lieber großzügig von einem Winkelblockglaukom als Arbeitsdiagnose ausgegangen und schnellstmöglich mit einer Hemmung der Kammerwasserproduktion (s.u.) begonnen werden, um den Augendruck zu senken. Abweichende DDs können so zwar nicht ausgeschlossen werden, bei Einhaltung der unten abgebildeten Therapieempfehlung hat das aber keine Relevanz. Eventuelle Nebenwirkungen (z.B. Bulbushypotonie) sind – selbst bei falscher Arbeitsdiagnose – ungefährlich, reversibel und nicht relevant im Vergleich zur ggf. drohenden Erblindung eines Auges.
“Lieber großzügig, weil bei Winkelblockglaukom sonst nach paar Stunden blind.”
- Zur Augendruckmessung mancherorts Tonometrie-Stifte, in Deutschland allerdings kaum verbreitet
- In manchen Notaufnahmen zudem Spaltlampen für weitere Differentialdiagnostik und Diagnosesicherung
- Teils auch sonographische Ansätze (z.B. hier), aber eher untergeordneter und unpragmatischer Stellenwert
Differentialdiagnosen des einseitig roten & schmerzhaften Auges:
- Akutes Winkelblockglaukom
- Hornhautabschürfung
- Konjunktivitis
- Subkonjunktivale Blutung
- Iritis
- Episkleritis
- Infektiöse Keratitis
- Trauma
5. Management im Rettungsdienst
- Time is Sehnerv! Time is Augenlicht!
- Daran denken und Erkennen ist essenziell
- Obenstehendes zur Diagnosestellung ist auch präklinisch gültig!
Maßnahmen:
- Suffiziente Analgesie
- Ggf. Antiemetika
- Flachlagerung **
- Beruhigende Ansprache
- Für möglichst helle Umgebung sorgen, sofern von Pat. toleriert
- Erkennen und schnellstmögliche Zuführung in Augenklinik
- Bei sehr langer Transportdauer bis Augenklinik zunächst schneller erreichbare Notaufnahme ansteuern, damit dort Maßnahmen zur Augendrucksenkung (s.u.) eingeleitet werden können. Vorher jedoch unbedingt abklären, ob entsprechende Medikamente bzw. Augentropfen vorgehalten werden!
- Keine Gabe von Anticholinergika (Atropin, Butylscopalamin etc.) und Dimenhydrinat (Vomex ®)
Wir dürfen die Rolle des Rettungsdienstes hier auf keinen Fall klein reden, auch wenn präklinisch keine spezifischen Maßnahmen zur Verfügung stehen. Das Augenlicht ist ein so wertvoller Schatz und zentraler Aspekt der Lebensqualität eines jeden Menschen. Richtige Arbeitsdiagnose und Bahnung der notwendigen Schritte hat zentrale Bedeutung bei dessen Rettung!
**Info: Ziel der Flachlagerung ist es, die Position der Linse zu optimieren und sie von der Iris weg zu bewegen, um dem Zustand des Pupillarblocks entgegenzuwirken. Unklare Evidenz / Quelle hier.
6. Management in der Notaufnahme
- Präklinisch begonnene Allgemeinmaßnahmen fortsetzen und ggf. ergänzen
- Schnellstmöglich Augendruck senken und dadurch Zeit gewinnen!
- Augenärztliche Vorstellung ist obligat -> umgehend in die Wege leiten
- Definitive Therapie des akuten Winkelblockglaukoms ist fast immer eine operative (Laser Iridotomoie)
Medikamentöses Vorgehen:
- Initial Dreifach-Medikation zur Hemmung der Kammerwasserproduktion
- Carboanhydrase-Hemmer (Acetazolamid 500mg iv.)
- β-blockierende Augentropfen (Timolol 0,5% 1 Augentropfen)
- α2-agonistische Augentropfen (Apraclonidin 0,5% 1 Augentropfen alle 5min)
- Triple Kombi ist sehr wirksam und sicher – auch bei falscher Indikationsstellung keine ernsthaften Komplikationen möglich
- Nach opthalmologischer Konsultation ggf. weitere und spezifischere Augentropfen (da hier mehr Kontraindikationen)

Für Nerds:
Die Pilocarbin Gabe einer ophthalmologischen Rücksprache hinten anzustellen erscheint deshalb sinnvoll, weil sich hier die meisten Kontraindikationen (z.B. schwierig zu erkennendes sekundäres akutes Glaukom, ziliolentikulärer Block, absolute Lichtstarrheit der Pupille oder IOP >40mmHg) verbergen. An anderen Stellen werden zwar andere Vorgehen vorgeschlagen – meist jedoch unter der Voraussetzung ophthalmologischer Expertise und Untersuchungsstandards, welche in der Notfallmedizin schlicht nicht gegeben sind.
Umfangreiche Infos zur Arzneimitteltherapie bei Glaukom findet ihr hier.
7. Take Home Messages

Abschließendes:
Das hier beschriebene Krankheitsbild ist ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit breiten Denkens im Rettungsdienst und interdisziplinär ausgebildeter Notfallmediziner:innen in Notaufnahmen. Die endgültige Therapie ist letztlich nicht von Interesse; die schnellstmögliche Erkennung und Notfalltherapie zeitkritischer Erkrankungen über alle Organsysteme hinweg ist schon anspruchsvoll und wichtig genug.
Und eventuell ist dieser Fall und Artikel ja auch Anstoß dazu, in den eigenen Notaufnahmen zumindest Acetazolamid, Timolol und Apraclonidin vorzuhalten oder sich einmal zu vergewissern, wo die Medikamente im eigenen Haus ggf. zu finden wären.
Wie immer gilt: Für Feedback, Fragen und Korrekturvorschläge sind wir sehr dankbar.
8. Quellen und Weiterführendes:
- Unfertige (?) Guideline des britischen Royal College of Ophtahlmologists
- Kompakte Übersicht bei rebelEM
- Extrem wertvolle, ausführliche Darstellung bei Taming the SRU
- Murray D. (2018). Emergency management: angle-closure glaucoma. Community eye health, 31(103), 64.
- Schöne Übersicht mit genialer Grafik auf tomwademd.net
- Grehn: Augenheilkunde, 32. Auflage 2019, Springer Verlag, ISBN: 978-3-662-59153-6
- Und natürlich vielen Dank an Dr. med. Benjamin Luger, das Telefonat mit dir war sehr bereichernd! 🙂
Es bestehen keine Interessenskonflikte.
Es ist richtig das Acetazolamid nicht mehr i.v. verfügbar ist, die orale Gabe ist aber ausreichend.
Die initiale Augeninnendrucksenkung wird in den Augenkliniken durch Mannitol I.v. und eine Tropftherapie erreicht, Glaupax dient dazu innerhalb von Stunden den IOD zu senken und zu stabilisieren.
Klinik intern bei uns : initial alle 5 min im Wechsel Prostaglandine und Timolol (Cave: gerade ältere herzkranke Pat. können schon nach wenigen Tropfen Timolol zu Synkopen und Bradykardie neigen) für 20 min, dann im 10 min Wechsel. Spürbare IOD-Senkung und Symptombesserung nach 20-30 min.
Pilocarpin wenn keine Kontraindikationen vorliegen, gegen Erbrechen Ordansetron i.v.
Sobald die Hornhaut wieder so klar ist (genügend Sicht für eine Laser-Iriditomie), sollte die umgehend durchgeführt werden, da nur hiermit die Ursache behoben wird.
Ich muss mich auch bedanken.
Vielen Dank für diese ausführliche Übersicht zu einer wichtigen Differenzialdiagnose.
Zu den Therapievorschlägen jedoch folgende Ergänzung: Auch wenn es in den Lehrbüchern weiter als Therapeutikum genannt wird, ist meines Wissens nach Acetazolamid iv (Diamox) seit 2018 in Deutschland nicht mehr verfügbar und entfällt damit als schnelle intravenöse Therapieoption. Die orale Gabe als Glaupax (250 mg/Tablette) dürfte im Notfall zu langsam wirken.