Wow -was für ein Input zu diesem Fall! Vermutlich hat vor allem die Diskussion zu einem richtigen Mehrwert geführt und wir konnten alle eine Menge lernen. Jetzt kommt noch die Auflösung des Falls und ein paar Gedanken. Habt eine schöne, ruhige Vorweihnachtszeit – Kristin.
Teil 1 verpasst? Dann einmal hier lang 🙂
Gliederung:
- Fallauflösung
- Verätzungen
- Depressionen
- Take-Home-Message
- weitere Informationen
- Quellen
1. Fallauflösung
Die Herzfrequenz der Patientin sinkt immer weiter und kann medikamentös nicht mehr aufrecht erhalten werden. Kurz vor der Zufahrt zum Krankenhaus wird sie reanimationspflichtig.
Unter Reanimation wird die Patientin in den Schockraum gebracht.
Dort versucht der Arzt nach kommuniziertem schwierigem Atemweg den Tubus mittels fieberoptischer Intubation zu kontrollieren. Dabei stellt sie jedoch eine großflächige Verätzung der Schleimhäute, des Lungengewebes und der Trachea fest. Nach einer Stunde wird die Reanimation abgebrochen. Es liegt uns keine Information vor, um welche Substanz es sich handelte.
Sollten dich die genannten Themen triggern können, überlege dir bitte genau, ob du weiterlesen möchtest. Wenn du bereits das Gefühl haben solltest, Hilfe zu benötigen, zögere bitte nicht unter der bundeseinheitlichen Telefonnummer 0800-1110111 die Telefonseelsorge zu kontaktieren oder dich auf dieser Seite über weitere Hilfsangebote zu informieren.
2. Verätzungen
Verätzungen führen, ganz genau wie Verbrennungen, zu großflächigen Gewebeschäden.
Pathophysiologie
Verätzung → Inflammation → Kapillarleck → erhöhte Kapillarpermabilität = interstitielles Ödem + intravasaler Flüssigkeitsmangel → HZV ↓ → relativer Volumenmangelschock
Unterschiedliche Formen der Nekrose:
- Verätzungen durch Säuren → Koagulationsnekrosen
- Verätzungen durch Laugen → Kolliquationsnekrosen
(Zellen schwellen an, Zelllyse im Verlauf → Verflüssigung des Gewebes, Defekt meist ausgedehnter als Koagulationsnekrosen → Schaden ist eingangs schwer zu beurteilen, meist schwerwiegender als bei Säuren)
Symptome
äußere Verletzungen:
- Kontakt mit Augen: Schmerzen, Rötungen, Photophobie, Visusreduktion, Hornhauttrübung, ischämische Konjunktiven→ Gefahr der Erblindung
- Haut: Gradeinteilung der Verätzung wie bei Verbrennung; Einteilung jedoch tw. kritisch:
– gleiche Behandlung bei Grad III und IV
– Unterteilung von II a/b erst nach Tagen möglich
– Volumenmangelschock
Symptome nach Ingestion:
- Schmerzen und Erbrechen, im Verlauf dann Infektion
- Atemwegsverlegung durch Schwellung → Dyspnoe
- bei Einatmen → Gefahr des toxischen Lungenödems → Dyspnoe
- Gefahr von Perforationen (Trachea und Ösophagus)!
Im Verlauf: möglicher Volumenmangelschock nach einigen Tagen und Gefahr der schweren Sepsis bei häufig folgenden Wundinfektionen der großflächigen Wunden
Gradeinteilung der thermischen/chemischen Verletzungen:
Grad | Betroffene Hautschichten | Klinik |
1 | Epidermis | Rötung, starker Schmerz, wie Sonnenbrand |
2a | Oberflächige Dermis | Blasenbildung, Wundgrund rosig und rekapillarisierend, starker Schmerz, Haare fest verankert |
2b | Tiefe Dermis (mit Hautanhangs- gebilden) | Blasenbildung, Wundgrund blasser und nicht oder schwach rekapillarisierend, reduzierter Schmerz, Haare leicht zu entfer- nen |
3 | Komplette Dermis | Trockener, weißer, lederar- tig harter Wundgrund, keine Schmerzen, keine Haare mehr vorhanden |
Behandlung thermischer Verletzungen des Erwachsenen
Klasse: S2k AWMF-Register-Nr.: 044-001 Februar
Therapie
Allgemein
- Eigenschutz! → evtl. Nachforderung von Kräften zur Dekontamination (Dekon-V)
- Entfernung kontaminierter Kleidung
- Kontakt zur Giftnotrufzentrale
Lokal
- Spülung von Haut durch Wasser (vom Körper weg)
- Steriles, lockeres Abdecken der Körperoberflächen
- Öffnen von Blassen in der Klinik → vollständige Dekontamination
Augen
- langes Spülen (mind. 15min) des Auges mit neutraler Flüssigkeit! → in alle Blickrichtungen
- lockeres Abdecken beider Augen bei Beteiligung
bei Ingestion
- Erbrechen vermeiden!
- frühzeitige und engmaschige Evaluation des Atemwegs → Sicherung in Erwägung ziehen
Systemisch
- Wärmeerhalt!! Große Gefahr der Hypothermie auf Grund des Gewebedefekts und Flüssigkeitsverlust
→ Vorheizen des RTWs - Therapie eines möglichen Volumenmangels → Vollelektrolytlösung
- ab > 10% verbrannter KOF (Erw.): 1000 ml VEL innerhalb 2 h nach Ereignis (am besten vorgewärmt)
- Parkland Formel inzwischen veraltet → Gefahr der Volumenüberladung → Alternativ: erweitertes hämodynamisches Monitoring
Besondere Dekontamination von folgenden Stoffen:
Calciumoxid | Zement | Abbürsten (mechanisch!) der Haut, bei Kontakt mit Wasser: Umwandlung in Calciumhydroxid (→ alkalisch, Schwach ätzend, exotherm!) |
Natriumhydroxid | Rohrreiniger | langes, gründliches Spülen mit kaltem (!) Wasser, stark |
Natrium-hypochlorid | Bleiche | stark basisch! Abwaschen mit Seife, langes Spülen mit Wasser |
Flusssäure | zum Ätzen von Glas/Metall | Eindringen von Fluorid-Ionen ins Gewebe → Gefahr von Osteolyse und Depolarisierung der Nerven möglich – Hypocalciämie und Hyperkaliämie möglich → EKG Überwachung! – primär lokale Gabe von Calciumglukonat – evtl.Gabe von Calciumglukonat i.v. |
Grundsätzlich gilt: frühzeitiger Einsatz von erweitertem hämodynamischen Monitoring für die optimale Therapie
Zusammenfassend: Die Therapie erfolgt am ehesten symptomatisch. Bei Kontamination mit Haut oder den Augen sollen die Kontaktflächen gründlich mit fließendem Wasser (CAVE: nicht bei Zement!) gesäubert werden, damit der Stoff verdünnt und die Oberfläche gespült wird. Bei Verschlucken soll ein Erbrechen niemals erzwungen werden, damit es nicht zu einer erneuten Kontamination und im schlimmsten Fall zur Aspiration kommt. Wie bei Verbrennungen sind Wärmeerhalt und Volumentherapie elementar wichtig.
3. Unipolare Depression
Unipolare Depression = einzelne oder auch wiederkehrende (rezidivierende) Depressionen (im Gegensatz zu bipolaren Depressionen, die zwischen manischen und depressiven Phasen wechseln)
Epidemiologie
- häufige, aber unterschätzte Erkrankung
- Lebenszeitprävalenz an einer Depression zu erkranken: 16-20%
- Diagnoseprävalenz steigend (12,5% behandelte depressive Störungen im Jahr 2009, 15,7% im Jahr 2017 (+26 %))
- Frauen: frühere ED und erkranken häufiger
- erstmalige Erkrankung meist vor dem 31. Lebensjahr
- höchste Suizidrate bei Männern und älteren Menschen
- häufig: Kombination von psychischen Erkrankungen
- erhöhtes Risiko an somatischen Krankheiten zu erkranken und schlechtere Prognose der Behandlung bei bekannter Depression
- starke Beeinträchtigung im Alltag, erhöhte Mortalität und verkürzte Lebenserwartung um 7-14 Jahren
– aufgrund von: höherem Risiko an somatischen oder substanzbedingten Erkrankungen; erhöhte Suizidrate; krankheitsfördernder Lebensstil- ebenso starke Belastung von Angehörigen und Freunden
Risikofaktoren
biologische Faktoren – genetische Vulnerabilität (depressive Störungen in der Familiengeschichte, insbesondere bei Angehörigen ersten Grades) – körperliche Risikofaktoren, v. a. metabolische Risikofaktoren, Stoffwechselstörungen, Adipositas, Infektionen, chronische Erkrankungen – hormonelle Umstellung in der Pubertät, Schwangerschaft/Wochenbett, Perimenopause soziodemografische Faktoren – weibliches Geschlecht – höheres Alter – Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit – niedriger sozioökonomischer Status, Armut psychische Faktoren – andere psychische Störungen, v. a. Angst-, Substanzgebrauchs- und Persönlichkeitsstörungen psychosoziale Risikofaktoren – Exposition gegenüber Traumata/Katastrophen – Vereinsamung, Verwitwung, soziale Isolation – aktuell belastende Lebensereignisse – chronischer Stress, Burnout, Überforderung Lebensstilfaktoren – Ernährung, Rauchen, Bewegungsmangel |
Langfassung Version 3.0 AWMF-Register-Nr. nvl-005
Symptome
Um die Diagnose einer depressiven Episode oder einer unipolaren Depression zu stellen, benötigt es mindestens zwei Hauptsymptome und mindestens zwei Zusatzsymptome, die > 2 Wochen anhalten.
Hauptsymptome
depressive Stimmung | Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Angstgefühl, Tagesschwankungen |
Interessensverlust/Freudlosigkeit | fehlende Durchführung von Alltagsaktivitäten, keine Freude an Hobbys |
Antriebsmangel | Erschöpfung bei einfachen Aktivitäten, fehlendes Interesse an sozialen Kontakten |
Therapie
Die Therapie der Depression ist multimodal und besteht insbesondere aus Psychotherapie und je nach Ausmaß der Erkrankung (leicht, mittel, schwer; therapieresistent, vorangegeben Erkrankungen) in einer Kombination mit medikamentöser Therapie.
Kurzer Auszug aus innerklinischen Therapiemöglichkeiten
- starkes Einbeziehen der Patient:innen; Vereinbarung und Priorisierung der Therapieziele
- Psychoedukation
- Psychotherapeutische Begleittherapie
- bei schwerer Depression (oder fehlender Therapieerfolg) Behandlung mit Antidepressiva (z.B. SSRI, SSNRI)
- stationäre Aufnahme bei schwerer Depression
- Elektrokonvulsionstherapie oder transkranielle Magnetstimulation
Notfallsituation
Depressive Erkrankungen sind häufig Nebendiagnosen und Befunde in der Notfallmedizin, oft wird ihnen wenig bis keine Beachtung geschenkt. Im Rettungsdienst wird man allerdings häufig (20-30% der psychiatrische Notfälle) mit suizidalen Patient:innen konfrontiert. Allgemein werden Suizidversuche auch in Notaufnahmen oft übersehen.
Häufig befinden sich suizidale Patient:innen bereits Monate vorher schon in medizinische Behandlung gegeben haben – es erfolgte jedoch keine psychiatrische Therapie und Behandlung.
Maßnahmen in der Akutsituation:
- ausführliche (Fremd-)Anamnese, nach Möglichkeit und Erfahrung mit psychopathologischem Befund
- körperliche und neurologische Untersuchung → Differentialdiagnostisch an organischer Ursachen denken
- Ausschluss metabolischer Ursache in der Notaufnahme (v.a. Hypothyreose)
- Klare und deutliches Fragen von Suizidgedanken und suizidalen Handlungen!
- Erfragen von Eigen-/Fremdgefährdung
- weiteres Vorgehen nach Zusammenschau der (Fremd-)Anamnese
4. Take-Home-Message

5. Weitere Informationen
Viele interessante Artikel, die ich euch nicht vorenthalten will!
- A-/B-Problem? DOPES!
- Ein Exkurs zu Verätzungen am Auge von News Papers
- und hinterher auch die S1 Leitlinie zu akuten Verätzungen am Auge
- nochmal zur Auffrischung: NERDfacts Toxidrome von Tim
- Allgemeiner Umgang mit Vergiftungen gibt es natürlich auch bei uns Teil 1 und Teil 2
- Hier ein Link zum Thema Notfallnarkose von news papers
- Navids NERDfall zum schwierigen Atemweg bei der Anaphylaxie
- und last but not least: Behandlung von Vergiftungen vor allem auch beiden toxdocs.de
- Einmal Wiebkes NERDfall zur Postpartalen Depression, Suizidalität und Intoxikation mit Eibengift
- Schon des öfteren auf unserer Seite genannt: die 2-teilige Beitrag von dasfoam über Suizidalität im Rettungsdienst
6. Quellen
Behrbohm H, Kaschke O, Nawka T, Kurzlehrbuch Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, 2. korrigierte und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012. doi:10.1055/b-002-37761
Falkai P, Laux G, Deister A, Möller H, Duale Reihe Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie., Hrsg. 7., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2021. doi:10.1055/b000000071
Ellger, Björn; Bösel, Julian; Schürholz, Tobias., Intensivmedizin up2date 2015; 11(03): 187 – 191, DOI: 10.1055/s-0041-103449
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Es besteht kein Interessenkonflikt.