NERDfall Nr. 26 – Verätzungen und Depressionen

Wow -was für ein Input zu diesem Fall! Vermutlich hat vor allem die Diskussion zu einem richtigen Mehrwert geführt und wir konnten alle eine Menge lernen. Jetzt kommt noch die Auflösung des Falls und ein paar Gedanken. Habt eine schöne, ruhige Vorweihnachtszeit – Kristin.

Teil 1 verpasst? Dann einmal hier lang 🙂

Gliederung: 
  1. Fallauflösung
  2. Verätzungen
  3. Depressionen
  4. Take-Home-Message 
  5. weitere Informationen
  6. Quellen

1. Fallauflösung 

Die Herzfrequenz der Patientin sinkt immer weiter und kann medikamentös nicht mehr aufrecht erhalten werden. Kurz vor der Zufahrt zum Krankenhaus wird sie reanimationspflichtig.

Unter Reanimation wird die Patientin in den Schockraum gebracht.
Dort versucht der Arzt nach kommuniziertem schwierigem Atemweg den Tubus mittels fieberoptischer Intubation zu kontrollieren. Dabei stellt sie jedoch eine großflächige Verätzung der Schleimhäute, des Lungengewebes und der Trachea fest. Nach einer Stunde wird die Reanimation abgebrochen. Es liegt uns keine Information vor, um welche Substanz es sich handelte.

Sollten dich die genannten Themen triggern können, überlege dir bitte genau, ob du weiterlesen möchtest. Wenn du bereits das Gefühl haben solltest, Hilfe zu benötigen, zögere bitte nicht unter der bundeseinheitlichen Telefonnummer 0800-1110111 die Telefonseelsorge zu kontaktieren oder dich auf dieser Seite über weitere Hilfsangebote zu informieren.

2. Verätzungen 

Verätzungen führen, ganz genau wie Verbrennungen, zu großflächigen Gewebeschäden. 

Pathophysiologie

Verätzung → Inflammation → Kapillarleck → erhöhte Kapillarpermabilität = interstitielles Ödem + intravasaler Flüssigkeitsmangel → HZV ↓ → relativer Volumenmangelschock

Unterschiedliche Formen der Nekrose:

  • Verätzungen durch Säuren → Koagulationsnekrosen
  • Verätzungen durch Laugen → Kolliquationsnekrosen
    (Zellen schwellen an, Zelllyse im Verlauf → Verflüssigung des Gewebes, Defekt meist ausgedehnter als Koagulationsnekrosen → Schaden ist eingangs schwer zu beurteilen, meist schwerwiegender als bei Säuren)
Symptome

äußere Verletzungen:

  • Kontakt mit Augen: Schmerzen, Rötungen, Photophobie, Visusreduktion, Hornhauttrübung, ischämische Konjunktiven→ Gefahr der Erblindung
  • Haut: Gradeinteilung der Verätzung wie bei Verbrennung; Einteilung jedoch tw. kritisch:
    – gleiche Behandlung bei Grad III und IV
    – Unterteilung von II a/b erst nach Tagen möglich
    – Volumenmangelschock

Symptome nach Ingestion:

  • Schmerzen und Erbrechen, im Verlauf dann Infektion
  • Atemwegsverlegung durch Schwellung → Dyspnoe
  • bei Einatmen → Gefahr des toxischen Lungenödems → Dyspnoe
  • Gefahr von Perforationen (Trachea und Ösophagus)!

Im Verlauf: möglicher Volumenmangelschock nach einigen Tagen und Gefahr der schweren Sepsis bei häufig folgenden Wundinfektionen der großflächigen Wunden

Gradeinteilung der thermischen/chemischen Verletzungen:

GradBetroffene HautschichtenKlinik
1EpidermisRötung, starker Schmerz, wie Sonnenbrand
2aOberflächige DermisBlasenbildung, Wundgrund rosig und rekapillarisierend, starker Schmerz, Haare fest verankert
2bTiefe Dermis (mit Hautanhangs- gebilden)Blasenbildung, Wundgrund blasser und nicht oder schwach rekapillarisierend, reduzierter Schmerz, Haare leicht zu entfer- nen
3Komplette DermisTrockener, weißer, lederar-
tig harter Wundgrund, keine Schmerzen, keine Haare mehr vorhanden
Leitlinie
Behandlung thermischer Verletzungen des Erwachsenen
Klasse: S2k AWMF-Register-Nr.: 044-001 Februar

Therapie

Allgemein

  • Eigenschutz! → evtl. Nachforderung von Kräften zur Dekontamination (Dekon-V)
  • Entfernung kontaminierter Kleidung
  • Kontakt zur Giftnotrufzentrale

Lokal

  • Spülung von Haut durch Wasser (vom Körper weg)
  • Steriles, lockeres Abdecken der Körperoberflächen
  • Öffnen von Blassen in der Klinik → vollständige Dekontamination

Augen

  • langes Spülen (mind. 15min) des Auges mit neutraler Flüssigkeit! → in alle Blickrichtungen
  • lockeres Abdecken beider Augen bei Beteiligung

bei Ingestion

  • Erbrechen vermeiden!
  • frühzeitige und engmaschige Evaluation des Atemwegs → Sicherung in Erwägung ziehen

Systemisch

  • Wärmeerhalt!! Große Gefahr der Hypothermie auf Grund des Gewebedefekts und Flüssigkeitsverlust
    → Vorheizen des RTWs
  • Therapie eines möglichen Volumenmangels → Vollelektrolytlösung
    • ab > 10% verbrannter KOF (Erw.): 1000 ml VEL innerhalb 2 h nach Ereignis (am besten vorgewärmt)
  • Parkland Formel inzwischen veraltet → Gefahr der Volumenüberladung → Alternativ: erweitertes hämodynamisches Monitoring

Besondere Dekontamination von folgenden Stoffen:

CalciumoxidZementAbbürsten (mechanisch!) der Haut, bei Kontakt mit Wasser: Umwandlung in Calciumhydroxid (→ alkalisch, Schwach ätzend, exotherm!)
NatriumhydroxidRohrreinigerlanges, gründliches Spülen mit kaltem (!) Wasser, stark
Natrium-hypochloridBleichestark basisch! Abwaschen mit Seife, langes Spülen mit Wasser
Flusssäure zum Ätzen von Glas/MetallEindringen von Fluorid-Ionen ins Gewebe → Gefahr von Osteolyse und Depolarisierung der Nerven möglich
– Hypocalciämie und Hyperkaliämie möglich
→ EKG Überwachung!
– primär lokale Gabe von Calciumglukonat
– evtl.Gabe von Calciumglukonat i.v.

 

Grundsätzlich gilt: frühzeitiger Einsatz von erweitertem hämodynamischen Monitoring für die optimale Therapie

Zusammenfassend: Die Therapie erfolgt am ehesten symptomatisch. Bei Kontamination mit Haut oder den Augen sollen die Kontaktflächen gründlich mit fließendem Wasser (CAVE: nicht bei Zement!) gesäubert werden, damit der Stoff verdünnt und die Oberfläche gespült wird. Bei Verschlucken soll ein Erbrechen niemals erzwungen werden, damit es nicht zu einer erneuten Kontamination und im schlimmsten Fall zur Aspiration kommt. Wie bei Verbrennungen sind Wärmeerhalt und Volumentherapie elementar wichtig.

3. Unipolare Depression

Unipolare Depression = einzelne oder auch wiederkehrende (rezidivierende) Depressionen (im Gegensatz zu bipolaren Depressionen, die zwischen manischen und depressiven Phasen wechseln)

Epidemiologie
  • häufige, aber unterschätzte Erkrankung
  • Lebenszeitprävalenz an einer Depression zu erkranken: 16-20%
  • Diagnoseprävalenz steigend (12,5% behandelte depressive Störungen im Jahr 2009, 15,7% im Jahr 2017 (+26 %))

  • Frauen: frühere ED und erkranken häufiger
  • erstmalige Erkrankung meist vor dem 31. Lebensjahr
  • höchste Suizidrate bei Männern und älteren Menschen
  • häufig: Kombination von psychischen Erkrankungen

  • erhöhtes Risiko an somatischen Krankheiten zu erkranken und schlechtere Prognose der Behandlung bei bekannter Depression
  • starke Beeinträchtigung im Alltag, erhöhte Mortalität und verkürzte Lebenserwartung um 7-14 Jahren
    – aufgrund von: höherem Risiko an somatischen oder substanzbedingten Erkrankungen; erhöhte Suizidrate; krankheitsfördernder Lebensstil
    • ebenso starke Belastung von Angehörigen und Freunden
Risikofaktoren
biologische Faktoren 
– genetische Vulnerabilität (depressive Störungen in der Familiengeschichte, insbesondere bei Angehörigen ersten Grades) 
– körperliche Risikofaktoren, v. a. metabolische Risikofaktoren, Stoffwechselstörungen, Adipositas, Infektionen, chronische Erkrankungen
– hormonelle Umstellung in der Pubertät, Schwangerschaft/Wochenbett, Perimenopause 
soziodemografische Faktoren 
– weibliches Geschlecht
– höheres Alter
– Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit
– niedriger sozioökonomischer Status, Armut 
psychische Faktoren 
– andere psychische Störungen, v. a. Angst-, Substanzgebrauchs- und Persönlichkeitsstörungen 
psychosoziale Risikofaktoren 
– Exposition gegenüber Traumata/Katastrophen 
– Vereinsamung, Verwitwung, soziale Isolation 
– aktuell belastende Lebensereignisse
– chronischer Stress, Burnout, Überforderung 
Lebensstilfaktoren 
– Ernährung, Rauchen, Bewegungsmangel 
Nationale Versorgungs Leitlinie Unipolare Depression 
Langfassung Version 3.0 AWMF-Register-Nr. nvl-005 
Symptome

Um die Diagnose einer depressiven Episode oder einer unipolaren Depression zu stellen, benötigt es mindestens zwei Hauptsymptome und mindestens zwei Zusatzsymptome, die > 2 Wochen anhalten.

Hauptsymptome

depressive StimmungNiedergeschlagenheit, Verzweiflung, Angstgefühl, Tagesschwankungen
Interessensverlust/Freudlosigkeitfehlende Durchführung von Alltagsaktivitäten, keine Freude an Hobbys
AntriebsmangelErschöpfung bei einfachen Aktivitäten, fehlendes Interesse an sozialen Kontakten
Hauptsymptome bei Depression
Therapie

Die Therapie der Depression ist multimodal und besteht insbesondere aus Psychotherapie und je nach Ausmaß der Erkrankung (leicht, mittel, schwer; therapieresistent, vorangegeben Erkrankungen) in einer Kombination mit medikamentöser Therapie.

Kurzer Auszug aus innerklinischen Therapiemöglichkeiten

  • starkes Einbeziehen der Patient:innen; Vereinbarung und Priorisierung der Therapieziele
  • Psychoedukation
  • Psychotherapeutische Begleittherapie
  • bei schwerer Depression (oder fehlender Therapieerfolg) Behandlung mit Antidepressiva (z.B. SSRI, SSNRI)
  • stationäre Aufnahme bei schwerer Depression
  • Elektrokonvulsionstherapie oder transkranielle Magnetstimulation
Notfallsituation

Depressive Erkrankungen sind häufig Nebendiagnosen und Befunde in der Notfallmedizin, oft wird ihnen wenig bis keine Beachtung geschenkt. Im Rettungsdienst wird man allerdings häufig (20-30% der psychiatrische Notfälle) mit suizidalen Patient:innen konfrontiert. Allgemein werden Suizidversuche auch in Notaufnahmen oft übersehen.

Häufig befinden sich suizidale Patient:innen bereits Monate vorher schon in medizinische Behandlung gegeben haben – es erfolgte jedoch keine psychiatrische Therapie und Behandlung.

Maßnahmen in der Akutsituation:
  • ausführliche (Fremd-)Anamnese, nach Möglichkeit und Erfahrung mit psychopathologischem Befund
  • körperliche und neurologische Untersuchung → Differentialdiagnostisch an organischer Ursachen denken
  • Ausschluss metabolischer Ursache in der Notaufnahme (v.a. Hypothyreose)
  • Klare und deutliches Fragen von Suizidgedanken und suizidalen Handlungen!
  • Erfragen von Eigen-/Fremdgefährdung
  • weiteres Vorgehen nach Zusammenschau der (Fremd-)Anamnese

4. Take-Home-Message

5. Weitere Informationen

Viele interessante Artikel, die ich euch nicht vorenthalten will!



6. Quellen

Behrbohm H, Kaschke O, Nawka T, Kurzlehrbuch Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, 2. korrigierte und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012. doi:10.1055/b-002-37761

Falkai P, Laux G, Deister A, Möller H, Duale Reihe Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie., Hrsg. 7., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2021. doi:10.1055/b000000071

Ellger, Björn; Bösel, Julian; Schürholz, Tobias., Intensivmedizin up2date 2015; 11(03): 187 – 191, DOI: 10.1055/s-0041-103449

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Es besteht kein Interessenkonflikt.

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