NERDfall Nr. 27 – Teil 2: RSV und das kritischkranke Kind

Auch wenn das Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom kurz zur Diskussion stand, ging es diesmal tatsächlich einfach um einen der vielen, vielen RSV-Fälle, wie wir sie diesen Winter erleben. Respekt, wie einige zu jeder Zeit einen festen, zielgerichteten Fahrplan hatten, Handlungssicherheit bewiesen und zu allen Maßnahmen Pros und Kontras parat hatten – bei so einem schwerkranken Säugling, sicher nicht selbstverständlich.
Also hier wie immer nicht nur der weitere Fallverlauf, sondern auch noch ein paar Infos on top.

[Hier ginge es erstmal zu Teil 1]

Zürück am Einsatzort:
Nach telefonischer Rücksprache mit der ansässigen Kinderklinik stimmen die beunruhigten Eltern der organisierten klinischen Abklärung zu. Von einer Verneblung mit NaCl wird deutlich abgeraten. Für den Kinderarzt klinge es stark nach einer RSV-Infektion womit das Risiko gegeben wäre, den vielen Virus-typischen Schleim aufgrund von Alter und respiratorischer Erschöpfung nicht richtig Abhusten zu können. Damit würde sich die Situation nur drastisch verschlechtern.
Die Babyschale wird auf der RTW-Trage gesichert, der Sauerstoff umgesteckt und die Mutter auf dem Begleitstuhl angeschnallt. Die Sättigungskurve wird inzwischen aufgrund des deutlich ruhigeren Atembildes angezweifelt und der Sensor am großen Zeh angebracht: SpO2 97%.
In der Klinik scheint das Zäpfchen zu wirken und gemeinsam mit dem Einsatz von ein paar Nasentropfen beginnt Marie wieder kräftig zu trinken. Das Exanthem wird als Virusexanthem gedeutet und bedarf keinerlei Therapie. Schnell liegt ein positiver RSV-Test vor. Sie wird isoliert und ist bei Sättigungseinbrüchen, insbesondere nachts, noch für 3 Tage auf etwas Sauerstoff angewiesen. Kann dann jedoch zur finalen Genesung ins häusliche Umfeld entlassen werden.


Und damit gibt’s diesmal ein paar allgemeine Tipps & Tricks die bei pädiatrischen Notfällen helfen können und wie die Überschrift bereits verrät: obendrauf noch ein paar Facts und ein bisschen Hintergrund zum aktuellen Medien-Erreger: dem RS-Virus. Viel Spaß!

RSV und das kritisch kranke Kind
1. Altersdefinition
2. Richtwerte pädiatrischer Vitalparameter
3. Beurteilung eines kritisch kranken Kindes
– pädiatrisches Beurteilungsdreieck
– TICLS
– ABCDE Kids-Edition
4. RSV
– Das Virus
– Risikogruppen
– Typische Symptomatik
– DOs & DONTs im Handling
5. Take Home Messages

1. Altersdefinition

Altersabschnitt
Neugeborenes*Geburt bis Ende 4. Lebenswoche
Säugling bis zur Vollendung des 1. Lebensjahres
Kleinkind 1. -5. Lebensjahr
Kind bis zum 14. LJ gesetzliche Definition; biologisch individuell
* Achtung: Neugeborenen-Reanimations-Algorithmus gilt nur für die Geburtssituation!
AHA: “from birth to the end of resuscitation and stabilization in the delivery area.”

2. Richtwerte pädiatrische Vitalparameter

Pädiatrische Vitalparameter – Werte aus “Erkennen eines kritisch kranken Kindes” S. Winkler, F. Hey, L. Galow, S. Brenner Monatsschr Kinderheilkd 2020 · 168:90–100 https://doi.org/10.1007/s00112-020-00861-8

Empfehlenswert sind hier auf jeden Fall auch diverese (auch kostenlose) Pädi-Apps für’s Handy – einfach mal im App-Store stöbern.

3. Beurteilung eines kritischkranken Kindes

Hierzu hatte Tim in seinen NERDfacts schon das Wichtigste schön zusammengefasst:


Hier auch nochmal das TICLS Mnemonic als 1-Blick-Bild für’s Handy:

TICLS Mnemonic zur Erstbeurteilung des äußeren Erscheinungsbildes von Kindern
= Teil des pädiatrischen Beurteilungsdreiecks

Pädiatrische Traumapatient:innen
… sollen mit dem Pediatric Trauma Score beurteilt werden.

Auch bei Kindern folgt auf die Erstbeurteilung das weitere Vorgehen nach ABCDE-SchemaHierzu noch ein paar ergänzende Pädi-Specials:

— A —

  • Risikogruppe für Bolusgeschehen
    ➜ Mundrauminspektion
    Sonstige Hinweise: Inspiratorischer Stridor, thorakale Einziehungen, paradoxe Atmung
  • Freimachen/-halten von A:
    Säuglinge per Neutralposition – Kleinkinder per Überstreckung des Kopfes,
    ggf. + Esmarch-Handgriff
    – Atemwege sehr empfindlich ➜ starke Zuschwellneigung bei Manipulation
    – Guedl-Tubus nur bei Bewusstlosigkeit
    1. Wahl der AW-Sicherung: Larynx-Maske im Optimalfall unter Narkose
    – Endotracheale Intubation gehört in Hände von geübtem Personal
  • Nasentropfen wirken bei Säuglingen mit Schnupfen/Erkältung z.T. Wunder
    ➜ bis zu gewissem Alter isolierte Nasenatmer ➜ einziger Atemweg verlegt + oft Ursache für Trinkschwäche / Dehydratation

— B —

  • Tachypnoe meist Kompensationsmechanismus
  • Bradypnoe meist Zeichen von Erschöpfung, Dekompensation und/oder ggf. Periarrestsituation*, Hypothermie oder ZNS-Störung
    *insbesondere plötzlicher AF-Abfall
  • Typische Zeichen erhöhter Atemarbeit: thorakale Einziehungen (Inter-/ subkostale/sternal/jugulär), Nasenflügeln, atemsynchrones Kopfnicken, Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, paradoxe Atmung
  • “Anstoßende Atmung” / expiratorisches Stöhnen = Mechanismus um PEEP und damit funktionelle Residualkapazität zu erhöhen ➜ unspezifisches Zeichen für kritischen Kindszustand unabhängig von respiratorischen Erkrankungen; erzeugt durch Atmung gegen teilweise geschlossenen Kehldeckel
  • Pulsoxy wird oft besser an Fuß bzw. versteckt unter Handschuh bzw. Socke toleriert
  • Zielsättigung ≥94 %

— C —

  • Pulse zentral oder brachial tasten
  • Beurteilung der Hautperfusion: blass? marmoriertes Hautbild? Kühle Akren? Zentrale Rekap-Zeit <3s?
  • Volumendefizit häufig – Grund: höherer Flüssigkeitsumsatz
    Anzeichen:
    – Hauttugor?
    – Weint Kind mit Tränen?
    – Fontanelle/Augen eingefallen?
    – Trinkmenge vermindert? Fordert es Trinken selbst ein? Trinkt Kind überhaupt noch?
    – Windeln weiterhin nass?
    Wenn dtl. Hinweise vorhanden ➜ Volumenbolus 10-20ml/kgKG VEL
  • Langer Kompensationsmechanismus:
    – Kinder halten Blutdruck lange mit Bedarfstachykardie aufrecht
    – Bradykardie bereits Alarmzeichen für drohenden Herz-Kreislaufstillstand abgesehen von Hypothermie und Intox
    Daher am besten im Auge behalten:
    Herzfrequenz
    Vergleich periphere vs. zentrale Pulsqualität
    zentral < peripher: Hinweis Dekompensation
    zentral > peripher: Hinweis Zentralisation
  • An Erstmanifestation von angeborenem Herzfehler denken ➜ Vergleich von Puls bzw. SpO2-Werten an allen Extremitäten

— D —

  • Pädiatrische GCS sonst AVPU
  • Muskeltonus? Seitengleiche Spontanmotorik?
  • Meningismus?
  • Hinweise auf (Fieber-)Krampfanfall?
  • gespannte Fontanelle bei erhöhtem Hirndruck
  • Blutzucker Infekte provozieren gerne Erstmanifestation von Diabetes mellitus Typ 1
  • Bei kurzzeitiger Wesensveränderung BRUE/ALTE im Blick haben

— E —

  • Wärmeerhalt Mützchen nicht vergessen 😉
  • Zahnt Kind aktuell?Kann alleinstehend zu Temperaturen bis 38°C und Unruhe führen; bei höheren Temperaturen muss von anderer Ursache ausgegangen werden!
  • Bewusste abdominelle Untersuchung Blähbauch?
  • Typische Hautauffälligkeiten von typischen Kinderkrankheiten? Petechien? Virusexanthem?

Neugeborenen-Sepsis:
Fieber bei Säuglingen <8 Wochen birgt immer das Risiko einer zugrundeliegenden Neugeborenen-Sepsis und kann innerhalb von Stunden letal verlaufen ➜ klinische Abklärung obligat!
1) <8Wo + Fieber = Bleibt NIE zu Hause
2) “Je jünger, desto gefährlicher”

Pssst: Unter den Take Home Messages findet ihr direkte Verweise zum bereits bestehenden Nerdfallmedizin-Pädi-Material – vorbeischauen lohnt sich!

4. RSV – Respiratorisches Synzyntial Virus

Pathologie RSV-Infektion
  • Das Virus
    • Umhülltes (-)ssRNA aus Familie der Pneumoviridae
    Übertragungform: Schmier- & Tröpfcheninfektion
    Inkubationszeit: 2-8d
    • Führt zur Epithelzellen-Synzytialbildung ➜ Nekrose ➜ entzündliche Reaktion & Ödem der Atemwege ➜ Sekretbildung ➜ Sekret + Detritus = Verlegung der Bronchiolen ➜ Bronchiolitis + Entstehung von Atelektasen überblähten Arealen ➜ Hypoxämie + typisches Atemgeräusch des endinspiratorischen “Knisterrasselns”
    • Aktuelle Impfmöglichkeiten: kurzwirksamer Passiv-Impfstoff verfügbar, jedoch lediglich für Hochrisikokinder
  • Risikogruppen
    Säuglinge, insbesondere zw. 3-6 Mo
    • Risikokinder: ehemalige Frühgeborene, wachstumsschwache Kinder (kleinere Atemwege), ungestillte Kinder/ Stilldauer <2 Mo, Kinder mit bronchopulmonaler Dysplasie
    • Tabakrauchexposition, Luftverschmutzung, Armut
    Ältere >65J, insbesondere bei respiratorischen Vorerkrankungen
  • Typische Symptomatik
    • 2-3d vor Eskalation Schnupfen
    • Dyspnoe Tachypnoe, Nasenflügeln, Einziehungen, Zyanose
    • Husten
    • Bei Säuglingen meist Bronchiolitis führend ➜ endinspiratorisches Knisterrasseln = “Crackles”
    • Obstruktive Komponente (= Bronchitis) möglich ➜
    + Giemen/Pfeifen/”Wheezing”, Expirium etwas verlängert
    meist bei Kindern >1 Jahr
    • Bakterielle Sekundärinfektionen selten
    Durchschnittliche Symptomdauer: 14d
  • DOs & DONTs der RSV-Therapie
DOs DONTs
Bei Hospitalisierungsentscheidung berücksichtigen:
Erkrankungsschwere & -stadium
– Trinkverhalten
– Risikofaktoren
– soziale Aspekte
– Anfahrtsdauer durch Eltern bei Notfall
Unselektierte Hospitalisierung “…, weil es ja noch schlimmer werden könnte.” o.Ä.
Lediglich bei 2-3% aller RSV-infizierten Säuglingen ist Hospitalisierung erforderlich
Im Risikoumfeld: RSV-Schnelltest/Multiplex-PCR
(Kohorten-)Isolation Behandlung in Mehrbett-Überwachungsraum mit anderen Säuglingen/Kleinkindern
Minimal HandlingUnselektierte Röntgen-Thorax-Aufnahmen: RSV-Infektion kann Pneumonie ähneln ➜ führt zu überflüssigen Antibiotikagaben
Situationsadaptierte Oxygenierung
Zielsättigung ≥ 92-94%
Unselektierte Blutabnahmen/BGA: Erzeugt Stress, bringt nur bei schweren bzw. atypischen Verläufen relevante Erkenntnisse
Senken von hohem Fieber mit
– Paracetamol 15mg/kgKG
oder
– Ibuprofen 10mg/kgKG (ab 3 Mo)
Auf ausreichende Hydratation achten / dafür sorgen
– bei <50% Trinkmenge ➜ Magensonde
Nasentropfen/NaCl bei verschlossener Nase
– Nasenatmer!
– Wirkt oft Wunder bei Trinkschwäche
Geduld walten lassen

  • Bei offensichtlicher obstruktiver Komponente (Ausnahmefall = selten) ➜ Inhalation mit Salbutamol – sonst droht vor allem bei (jungen) Säuglingen und respiratorisch erschöpften Kindern Zulaufen/Ersticken durch unnötig gelöstes Sekret.
  • Nasales Absaugen wird aktuell widersprüchlich diskutiert; wenn dann behutsam und oberflächlich

5. Take Home Messages

Take Home Messages – Nerdfall 27 “RSV und das krtischkranke Kind”

> Bei der Erstbeurteilung hilft das pädiatrische Beurteilungsdreieck

>
Das TICLS-Akronym sensibilisiert für ein auffälliges, äußeres Erscheinungsbild

> Kinder sind keine kleinen Erwachsenenen!
u.a. gilt:
– Die Normwerte der Vitalparameter entsprechen nicht den adulten Richtwerten
– Deutlich höhere Zuschwellneigung der Atemwege
– Säuglinge = obligate Nasenatmer ➜ Nase frei, Kind glücklich(er)
– Kinderkörper kompensieren sehr lange kritische Kreislaufsituationen ➜ Herz- & Atemfequenz sowie Pulsqualität im Auge behalten!
– Höherer Flüssigkeitsumsatz = höhes Risiko eines Volumendefizits
Hier gilt doppelt: Keine Diagnose durch die Hose! Atemarbeit? Marmorierung?

> Risikogruppe RSV: Säuglinge & Ältere >65J

> RS-Virus bildet in oberen Atemwegsen Zell-Synzytien
, welche als Schleim in Bronchiolen gelangen:
– Typisches Krankheitsbild: Bronchiolitis
– Typisches Atemgeräusch: endinspiratorisches Knisterrasseln

> RSV-Therapie: Minimal Handling + ggf. Oxygenierung + ggf. Volumensubstitution + Geduld

—- Für alle, die noch nicht genug haben, gibt’s hier noch mehr Stoff: —-


Teilt natürlich gerne wieder eure abschließenden Gedanken in der Telegram-Gruppe!


Von euch erlebte Fälle, sammeln wir weiterhin hier: präklinisch und hier: innerklinisch. Wir sind gespannt!

Quellen:

Winkler, Stefan & Hey, Florian & Galow, Lukas & Brenner, Sebastian (2020) Erkennen des kritisch kranken KindesStandardisiertes Vorgehen nach dem ABCDE-Algorithmus Notfall + Rettungsmedizin. 24. 10.1007/s10049-020-00812-6.

Schorlemer C., Eber E. (2020) Akute virale Bronchiolitis und obstruktive Bronchitis bei Kindern Monatsschr Kinderheilkd.; 168(12): 1147–1157.

+ Artikel/Paper/etc. im Beitragsverlauf

Es bestehen keine Interessenkonflikte.

2 Gedanken zu „NERDfall Nr. 27 – Teil 2: RSV und das kritischkranke Kind“

  1. Vielen Dank wie immer für den übersichtlichen tollen Beitrag.
    Eine kleine Anmerkung/ Korrektur hätte ich dennoch: ABCD-E: Zahnen, verursacht kein (moderates) Fieber !, auch wenn der Volksmund uns das oft glauben machen will – allenfalls erhöhte Temperatur bis 38°C ! Alles darüber hinaus sollte, insb. unter Mediziner, nicht mit “Zahnung” abgetan werden. Das ist an o.g. Stelle etwas uneindeutig formuliert und könnte Fehleinschätzungen verursachen.

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