Die neue S3 Leitlinie zum Polytrauma ist da! Sie bringt einige interessante Neuerungen. (Da die AWMF Website momentan nicht stabil erreichbar ist, könnt ihr die Leitlinie auch bei ITLS herunterladen).
Quasi druckfrisch haben Tim und Moritz für euch eine Übersicht erstellt.
Das pdf zu dieser Folge findet Ihr hier:
Zusätzlich haben wir für euch die neuen Alarmierungskriterien als Pocket Card zusammengestellt.
Fact 1 – NEUE ALARMIERUNGSKRITERIEN!
Um Fehlalarmierungen zu reduzieren, wurden die Schockraum-Alarmierungskriterien angepasst. V.a. die Kriterien, die den Unfallmechanismus betreffen wurden deutlich reduziert. Formale Kriterien wie Geschwindigkeitsänderung über 30km/h, Verformung über 50cm und VU mit Zweirad fallen weg. Übrig bleiben nur Ejektion aus dem Fahrzeug, Verkehrsunfall mit Fraktur langer Röhrenknochen sowie der Sturz aus 3m Höhe. Ansonsten wird der Schockraum bei relevantem A-E Problem oder relevanten Verletzungen alarmiert. Für geriatrische Patienten sind die Kriterien leicht abgewandelt.
Alarmierungskriterien nach ABCDE
Bei folgenden pathologischen Befunden nach Trauma soll das Schockraumteam aktiviert werden: |
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A/B – Problem |
– Atemstörungen (SpO2 <90%) / erforderliche Atemwegssicherung – AF <10 oder >29 |
C – Problem |
– systolischer Blutdruck <90 mmHg – Herzfrequenz >120/min – Schockindex >0,9 – Positiver eFAST |
D – Problem |
– GCS ≤ 12 |
E – Problem |
– Hypothermie < 35,0°C |
Alarmierungskriterien nach Verletzungsmuster
Bei folgenden Verletzungen oder Maßnahmen nach Trauma soll das Schockraumteam aktiviert werden: |
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instabiler Thorax |
Mechanisch instabile Beckenverletzung |
Vorliegen von penetrierenden Verletzungen der Rumpf-Hals-Region |
Amputationsverletzung proximal der Hände/Füße |
Sensomotorisches Defizit nach Wirbelsäulenverletzung |
prähospitale Intervention (erforderliche Atemwegssicherung, Thoraxentlastung, Katecholamingabe, Pericardiozentese, Anlage Tourniquet) |
Frakturen von 2 oder mehr proximalen großen Röhrenknochen |
Verbrennungen >20% und Grad ≥2b |
Alarmierungskriterien nach Unfallmechanismus
Bei folgenden zusätzlichen Kriterien sollte das Trauma-/ Schockraumteam aktiviert werden: |
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(Ab)Sturz aus über 3 Metern Höhe |
Verkehrsunfall (VU) mit Ejektion aus dem Fahrzeug oder Fraktur langer Röhrenknochen |
Alarmierungskriterien für geriatrische Patienten
Die Schockraumalarmierung bei geriatrischen Patienten nach relevantem Trauma sollte zusätzlich bei einem der folgenden Parametern erfolgen: |
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RR sys <100mmHg |
bekanntes oder vermutetes Schädel-Hirn-Trauma und GCS ≤14 |
2 oder mehr verletzte Körperregionen |
Fraktur eines oder mehrerer langer Röhrenknochen nach Verkehrsunfall |
Um euch die neuen Kriterien nicht alle sofort merken zu müssen haben wir für euch zusätzlich die Kriterien zusammengefasst und in das Format einer Pocket-Karte gebracht, die ihr euch in die Kittel- oder Rettungsdiensthosentasche stecken könnt.
Fact 2 – STOP THE BLEEDING!
“Stop the bleeding” bleibt weiterhin einer der obersten Prioritäten. Die Leitlinie stellt noch einmal klar, dass das Tourniquet nicht Mittel der ersten Wahl ist, sondern erst bei Versagen der anderen Methoden (z.B. Kompression) oder falls andere Methoden nicht möglich sind, angewendet werden soll. “Ein Tourniquet soll dann angewendet werden, wenn eine lebensgefährliche Blutung mit anderen Maßnahmen nicht zeitgerecht gestoppt werden kann.”
Aktive Blutungen der Extremitäten sollen durch folgendes Stufenschema behandelt werden:
S3-Leitlinie: Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung 2023
1) Manuelle Kompression
2) Kompressionsverband, wenn möglich in Kombination mit einem
Hämostyptikum
3) Tourniquet
Auch ein Wechsel vom Tourniquet auf andere Methoden ist möglich (z.B. nach Rettung einer eingeklemmten Person).
Wenn bei unzugänglichem Blutungsort zur Erstversorgung ein Tourniquet angelegt wurde, sollte, nachdem der Patient gerettet wurde und die Situation es erlaubt, die Fortsetzung der Maßnahme und ein möglicher Verfahrenswechsel kritisch geprüft werden.
S3-Leitlinie: Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung 2023
Fact 3 – PRÄKLINISCHE SONOGRAPHIE!
Die Leitlinie würdigt die Möglichkeit einer präklinischen Sonographie v.a. des Thorax z.A. Pneu oder Perikarderguss. Sofern hierdurch keine Verzögerungen eintreten, kann die Sonographie präklinisch erfolgen. Dies spiegelt sich auch in den neuen Alarmierungskriterien wider (siehe oben). Bei positivem Befund im eFAST ist eine Schockraumalarmierung empfohlen. Spätestens im Schockraum ist eine fokussierte Sonographie empfohlen.
Fact 4 – ANALGESIE!
Fentanyl, Ketamin und Morphin sind in der Leitlinie gleichwertige Möglichkeiten einer adäquaten Analgesie. Bevorzugt soll die Analgesie intravenös erfolgen. Alternativ kann auch eine intraossäre oder nasale Applikationsform genutzt werden. Zusätzlich sollen immer auch physikalische Maßnahmen (v.a. Lagerung, Schienung) zur Schmerzreduktion eingesetzt werden.
Fentanyl, Ketamin und Morphin weisen eine vergleichbare Effektivität auf und sollen zur Analgesie des spontanatmenden schwerverletzten Patienten zur Anwendung kommen.
S3-Leitlinie: Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung 2023
Fact 5 – WEITERE NEUERUNGEN!
Vieles bleibt wie bekannt – vieles ist neu. Hier schlagwortartig eine Auswahl weiterer interessanter Punkte.
Ein i.o.-Zugang soll etabliert werden, falls ein i.v.-Zugang nicht gelingt. Die Leitlinie verzichtet hier auf konkrete Angaben zu Punktionsversuchen oder Zeiten. Hier ist allein die Einschätzung des Retters von Bedeutung.
Tranexamsäure (1g über 10min) soll bei Patienten mit lebensbedrohlichen Blutungen und/oder im Schock schon präklinisch gegeben werden.
Fibrinogen (initial 3-6 g bzw. 30-60 mg/kg) soll zusätzlich gegeben werden (präklinisch meist nicht verfügbar).
Auch die Gabe von EKs und Plasmen kann präklinisch erwogen werden, sofern verfügbar und ohne Verzögerung möglich.
Ein offener Pneu sollte mit einem Ventilverband versorgt werden (zur Not auch selbst gebastelt).
Noch einiges mehr…
Die Leitlinie beinhaltet noch viele weitere kleinere Änderungen oder Dinge, die nicht geändert wurden. Beispielsweise wurde die Empfehlung zur HWS-Immobilisierung trotz zunehmender Evidenz gegen die breite Nutzung einer HWS-Orthese/Zervikalstütze (“Stifneck®”) kaum angepasst. Auch wird der Bougie (oder ein Führungsstab) bei jeder Intubation empfohlen, bei einem notwendigen chirurgischen Atemweg wird die chirurgische Technik gegenüber Punktionstechniken präferiert.
Einige Punkte haben wir bei Twitter zusammengefasst und auf spannende Beiträge aus der Medi-Bubble hingewiesen:
Was habt ihr noch entdeckt? Was gefällt euch gut an der neuen Leitlinie? Hättet ihr euch weitere Änderungen gewünscht? Schreibt uns gerne in die Kommentare.
Die HWS Immobilisation ist doch erheblich geändert worden? Von wegen kaum angepasst.
Zunächst wird nur die Immobilisation z.B. nach NEXUS Kriterien gefordert, aber nicht womit.
Und es gibt nur eine Stelle, an der ein Stiffneck o.ä. explizit als “kann” gefordert wird, bei der technischen Rettung. Ansonsten gibt es mir die LL komplett frei, vollständig auf eine Stiffneck zu verzichten.
Aber Stiffneck nur plus Vakuummatratze und Headblocks, aber Vakuummatratze plus Headblocks ohne Stiffneck ist möglich.
Alte LL
Stiffneck ist wichtig, bitte benutzen
Neue LL
Kanste benutzen, musst du aber nicht, Nutzen ist auch nicht belegt
Und was Senisitvität und Spezifität angeht, sollte doch hoffentlich Canadian C Spine und nicht NEXUS genutzt werden.
@Maik: Hmm ich versteh Dich, jedoch bleibt die NEXUS aber auch die C-Spine Empfehlung wie die Dänische Studie von Maschmann C et al. 2019 mit den Empfehlungen bezüglich Immobilisation nur sehr zurückhaltend bzw. Schwache Empfehlung.
Es ist schade wie emotional, fast religiös immer alles „Algorithmisiert“ wird.
Die Erfahrung und status quo Entscheidung ist immer noch gefragt.
Sorry für den späten Beitrag:-)
Ich als Anhänger evidenzbasierter Medizin bin wirklich enttäuscht, dass HWS-Orthesen nicht endlich kritischer betrachtet werden.
Eine Schockraumalarmierung aufgrund lediglich des Unfallmechanismus bei sonst ABCDE-stabilen Patienten ist regelmäßig ein (Streit-)Thema bei uns, insbesondere wenn das Haus “nur” den Standard-Schockraum (mit allem personellen drum und dran inkl. OP-Saal-Stopp) oder die normale Vorstellung über die ZNA anbietet.
Eine der anzutreffenden Gattung (entweder UCH oder Anä) ist regelmäßig unzufrieden.
“…und warum sind wir jetzt eigentlich hier und halten extra einen OP Saal an?” Anä
“…ja Momentan mal, da will ich die Anästhesie aber primär dabei haben. Das ist doch ein blablabla-Trauma!” UCH
Als NA, der die Schockraum- Alarmierung eher restriktiv auslegt begrüße ich daher die Reduzierung der Alarmierungs-Indikationen aufgrund des Unfallmechanismus.
Sinnvoll ist, wie in überregionalen Traumazentren häufig anzutreffen, die Möglichkeit eines “Schockraum- light”
-> Übergabe im Schockraum inkl. eFAST und b. Bed. Traumaspirale aber primär ohne Anästhesie-Team.
Amen!!!
Schade nur das die HWS Immobilisation weiterhin so ist wie sie ist…. Wir sollten präklinisch aber wirklich konsequent die NEXUS Kriterien anwenden und dann auf 2028 hoffen. 🙂