NERDfall Nr. 28 – Teil 1: SpO2 67%

Hallo und herzlich Willkommen zu unserem 28.NERDfall! Wir freuen uns auf die nächste Runde unserer gemeinsamen Falldiskussion mit euch.

Kennt ihr das Konzept noch nicht? Hier gibt es eine Erklärung. Dort erfahrt ihr auch, wie ihr uns von eigenen Erfahrungen berichten könnt, damit wir diese für die Community aufbereiten und zu künftigen NERDfällen verwandeln können. Jetzt aber viel Spaß mit dem folgenden Fall:

Eine windstille Nacht im Frühling verlockt die Besatzung einer kleinen Großstadt-Außenwache zum Sinnieren über das Leben. Gemeinsam steht man auf dem Balkon, lehnt sich auf die in die Jahre gekommene Balkonbrüstung und blickt in den Sternenhimmel. Einzig der Zigarettenrauch der altgedienten NEF-NFS trübt die Aussicht in den wolkenlosen Himmel. Von wegen: in diesem Moment schrillen alle fünf Melder auf und rufen zur Arbeit.

Acht Minuten lang jagen RTW und NEF in Richtung Stadtzentrum, wo ein 83-jähriger Mann mit Atemnot zu kämpfen scheint. Am Einsatzort kann direkt vor dem Haus geparkt werden, durch ein enges Treppenhaus (kleiner Aufzug -> ausreichend für Tragestuhl) geht es zur betreffenden Wohnung. Eine besorgte Nachbarin empfängt das Team an der Tür und führt in das Wohnzimmer. Dort sitzt der Patient (180cm / 90kg) unter Einsatz der Atemhilfsmuskulatur auf einem Sofa und schaut prompt auf, als das Team den Raum betritt. Eine Lippenzyanose, Tachypnoe (AF 30/min) und maximale Sprechdyspnoe sind nicht zu übersehen. Übermäßiges Schwitzen besteht nicht. “Er hat bei mir geklingelt, weil er wohl seit einigen Minuten immer schlechter Luft bekommt. Da habe ich gleich sie gerufen. Sonst ist er eigentlich ganz fit. Also nach den Treppen ist er manchmal bisschen außer Atmen, aber der macht eigentlich alles alleine. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. So war das noch nie!”, schildert die Nachbarin aufgeregt in den Raum hinein. Der Patient nickt.

Die Notärztin beginnt sofort mit einem primary survey und kommuniziert eingangs laut den kritischen Patientenzustand. Das RTW-Team etabliert 15l O2/min per Reservoirmaske, das Basismonitoring sowie einen iv.-Zugang, palpatorisch wird ein systolischer Blutdruck von 230mmHg gemessen.
Auf Aufforderung öffnet der Patient prompt den Mund, wobei trockene Schleimhäute und eine zyanotische Zunge auffallen. Die Halsvenen sind dezent sichtbar, auskultatorisch fällt ubiquitär ein grobblasiges Rasseln auf. Die Rekap.-Zeit beträgt 2-3s, die peripheren Pulse sind seitengleich, kräftig und rhythmisch tastbar. Die Haut ist trocken und kühl. Der Patient macht einen orientierten Eindruck, reagiert schnell auf Aufforderungen, ist jedoch kaum in der Lage zu sprechen. Der BZ beträgt 9mmol/l bzw. 162mg/dl. Ein orientierender Bodycheck schließt grobe Verletzungen aus und entlarvt beidseitig dezente Unterschenkelödeme. Die Temperatur beträgt 37,1°C.

Die motivierte RTW-Praktikantin hat vom RS zu Beginn den Autoschlüssel in die Hand gedrückt bekommen und steht nach wenigen Minuten bereits mit dem Tragestuhl in der Wohnung. Man bespricht sich nun gemeinsam hinsichtlich des weiteren Vorgehens. Auf der 2l-Sauerstoffflasche herrschen noch 80bar Druck, die Nachbarin stolpert mit mit dem Medikationsplan des Patienten in den sorgfältig aufgeräumten Raum. Im Hintergrund brummt und ziept der Drucker des EKG-Geräts…

Das abgebildete 12-Kanal EKG stammt von https://litfl.com. Es steht mustergültig für das in diesem Fall abgeleitete EKG. Die tatsächliche Herzfrequenz beträgt jedoch 109/min.


Wie würdest du weiter vorgehen?
In welche Reihenfolge bringst du weitere Maßnahmen und Transfer in den RTW?


Zusatzinfo 1 (24.02.23 / 17:15 Uhr):

Schnell einigt man sich im Team auf ein Lungenödem im Sinne eines Hypertensiven Notfalls als Arbeitsdiagnose. Unter hochdosierter Sauerstoffgabe und nach insgesamt 1.2mg Nitroglyzerin sublingual (3 Hübe über 4min) bessert sich der Zustand deutlich. Die SpO2 beträgt bei 15l O2/min mittlerweile 92%, die AF ist etwas gesunken, der sys. Blutdruck liegt bei 160mmHg und der Patient schafft es, in kurzen Sätzen zu sprechen. Das gemeinsame Ziel im Team ist, schnell in den RTW zu kommen, um dort bei gesichertem Sauerstoff-Nachschub mit einer nicht-invasiven Beatmung starten zu können. Da in der Sauerstoffflasche nur noch 50bar Druck herrschen, einigt man sich, jetzt zügig und mittels Aufzug “wegkommen” zu wollen. Der Patient wird auf den Tragestuhl umgelagert, das Material schnell zusammengepackt und der Transfer begonnen. Der RS hat sich den Monitor um die Schulter gehängt und manövriert den Patienten rückwärts in den kleinen Aufzug hinein. Während sich die innere Falttür des Aufzugs an den Holmen des Stuhls verkeilt, ist die äußere Drehtür bereits zugefallen und nicht mehr zu öffnen. Da die innere Tür verkeilt ist, fährt der Aufzug aber auch nicht los: Patient und RS (noch in Softshell-Jacke) sind auf sehr engem Raum eingesperrt. Der Aufzug bewegt sich in keine Richtung, die äußere Tür ist zu. Lediglich durch den schmalen Glas-Anteil der äußeren Fahrschachttür ist Sichtkontakt möglich. In der Sauerstoffflasche herrschen noch 40bar Druck. 

Und jetzt?

Zusatzinfo 2 (26.02.23 / 16:45 Uhr):

Das Team ist schlagartig in höchster Alarmbereitschaft und sucht gemeinsam nach Lösungen für die extrem missliche Lage. Zu allererst wird die Feuerwehr nachalarmiert, welche etwa 10 Minuten Anfahrtszeit haben wird. Der RS bestätigt, dass es ihm persönlich gut gehe und schildert dem Patienten vorsichtig die Lage, während er dabei sanft eine Hand auf dessen Schulter legt. Im Aufzug findet sich nur eine Servicenummer der Aufzugsfirma; der Hausmeister lebt laut Nachbarin nicht im Haus. Ein Verrücken des Stuhls ist absolut nicht möglich, der Patient ist zudem nicht in der Lage aufzustehen und zunehmend agitiert. Im Team einigt man sich daher auf ein straightforward Vorgehen: die Glasscheibe wird mit einem Hammer aus der Wohnung der Nachbarin eingeschlagen. Hierfür hält der RS seine Softshelljacke als Splitterschutz über sich und den Patienten. Zunächst wird nur eine kleine Öffnung geschaffen, durch die eine dicke Wolldecke hineingegeben wird. Diese wird vom RS auf ganzer Länge von innen an die Tür gehalten, so dass die Scheibe von außen großzügig eingeschlagen werden kann. Währenddessen schimpft der verängstigte Patient immer wieder kurz über die entstehenden Kosten und fragt, wer dies denn nun bezahlen solle, bevor ihn die eigene Dyspnoe wieder bremst. Eine einfühlsame Erklärung des Vorgehens durch das Team wird jedoch wohlwollend aufgenommen. Durch die geschaffene Öffnung werden Sauerstoffflasche und Nitrospray hereingereicht. Die Flasche kann gerade noch vor Leerlaufen gewechselt werden, das Nitro-Spray wird auf Anweisung der Notärztin durch den RS einmal verabreicht. Aus Sorge vor Komplikationen in der engen Kabine kommt die Gabe von Midazolam oder Morphin für die Notärztin nicht in Frage. Eine Blutdruckmessung ist nicht möglich, da der Messschlauch zwischen Rückwand und Stuhl eingeklemmt ist, die SpO2 beträgt 92%, die Herzfrequenz 97/min. Seit Alarmierung der Feuerwehr sind nun 4 Minuten vergangen.

Wie denkst du über das bisherige Vorgehen des Teams?
Wie würdest du weiter vorgehen?

Die Auflösung zum Fall erscheint morgen (27.02.2023)

Teile deine Meinung einfach hier in die Kommentaren oder schau in unserer Telegram-Gruppe mit fast 3000 anderen motivierten Nerds vorbei! Wir freuen uns auf dich. 🙂

Autor: Navid Azad

An der Notfallmedizin reizen mich ihre Vielseitigkeit, das pragmatische Arbeiten mit menschlicher Physiologie, die mentalen Aspekte des Arbeiten unter Drucks und die vielfältigen gesellschaftlichen Einblicke.

5 Gedanken zu „NERDfall Nr. 28 – Teil 1: SpO2 67%“

  1. Würde unter 15l O2 zügig ins Auto transportieren, hier Lagerung mit OK hoch, weiter 15l O2 und ein 10 für 10.
    A/B: Leitsymptom Dyspnoe, Hypoxämie, V.a. Lungenödem, differentialdiagnostisch bei Akutem Symptombeginn auch mal an eine LAE denken.
    C: Hypertensiv entgleist, im EKG ein (neu aufgetretener?) LSB -> Infarktbedingte Herzinsuffizienz?, AP-Beschwerden abfragen.
    D: bei wachem Patienten erstmal hinten anstellen.
    Wenn weitere Anamese für Lungenödem spricht, nach Ausschluss Kontraindikationen Nitrolingual SL, falls keine ausreichende Besserung NIV Beatmung mit sukszessiver Erhöhung des PEEP, zur Sedierung eine Spur Midazolam oder Morphin, Nitro Perfusor verfügbar? Bei zusätzlichen AP-Beschwerden zusätzlich 250 mg ASS, 5000 IE Heparin
    Sollte sich Pat. weiter verschlechtern und man ist noch nicht losgekommen Intubation (DSI).
    Internistische Voranmeldung nicht vergessen

  2. Liebe Kollegen, der Pat. ist nach meinem Empfinden zu krank für den Transport nach unten. Ich würde zunächst den Blutdruck senken mit Nitro und ggf. Urapidil unter Sauerstoff ( wie ist die Sättigung mit Sauerstoff?) EKG ist regelmäßig, wohl SR, vermutlich kompl. LSB (ich kann es nicht ausmessen, keine frischen Schädigungszeichen bei durch den Block eingeschränkten Beurteilungsmöglichkeiten. Lagerung so lassen, Beine tief…Dann neu entscheiden, evtl.Furosemid, die SH sind wahrscheinlich wegen der Atemarbeit trocken, ich glaube nicht an Exsiccose. Die Ödeme sprechen für zumindest Rechtsinsuff., ich denke er ist primär im hypertensiven Lungenödem und staut nach rechts durch..
    Bin gespannt, wie es weiter geht!!
    GLG Katharina

  3. Der Patient hat ein cardiales Lungenödem bei einer hypertensiven Krise entwickelt. Hier muss schnellstmöglich eine umfangreiche Therapie vor Ort und nicht im RTW erfolgen, da diese Patienten extrem schnell intubationspflichtig werden können, was durch eine intensive Therapie vor Ort zumeist verhindert werden kann. Also: O2 15 l/ min , Patienten beruhigen , i.v Zugang 0,4 – 0,8 mg Nitro subl. 20 -40 mg Furosemid I.v . Zudem vorsichtig titriert 2,5- 10 mg Morphin i.v. , Die Praktikantin sollte das Beatmungsgerät aus dem RTW holen, damit vor Ort mit eine NIV/CPAP Therapie begonnen werden kann. Nun in Ruhe abwarten, bis der Patient eine deutliche Minderung seiner Dyspnoe und Unruhe aufweist. Im EKG zeigt sich ein LSB – dies kann bei der Vorgeschichte des Pat ein ältere Befund sein- sollten bei ihm zusätzlich noch typische Symptome eines ACS vorliegen, ist eine Antikoagulation mit ASS und Heparin indiziert. Da der BZ erhöht ist , ist eine DM mit einem stummen ACS nicht auszuschließen

  4. Akute Dyspnoe + Hypoxie/Hypoxämie + Hypertension mit 230mmHg SBP wären für mich suggestiv auf ein SCAPE mit US-Ödemen und ubiquitären, grobblasigen RG. NIV CPAP 15-18mmHg, Nitroglycerin Bolus i.v. + Perfusor. Blutdruck sollte zeitnah <160mmHg gesenkt werden. Ggf. Urapidil. Auf Furosemid würde ich verzichten.

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