EKG Case: Thoraxschmerzen auf der „falschen“ Seite

Der Melder geht, du liest: „Thoraxschmerzen, mittel.“ So lautet die Einschätzung des Disponenten der Leitstelle. Selbst mit Alarm kommt ihr nur mühsam durch den Feierabendverkehr voran. Als du vor Ort bist, gibt der Patient Ende 40 an, dass er vorhin Thoraxschmerzen hatte. „Vorhin“ denkst du und verbindest ihn mit dem Basis-Monitoring, zu dem bei diesem Krankheitsbild auch das 12-Kanal-EKG gehört.

Als er „112“ gewählt hatte, lagen die Thoraxschmerzen auf der rechten Seite bei 8/10. Sie seien atemabhängig gewesen. 

Atemabhängige Schmerzen. Du denkst an Pleuritis, vielleicht auch ein Pneumothorax und auskultierst. Atemgeräusche sind auf beiden Seiten gleich, du vernimmst keine Rasselgeräusche. 

Du leitest nun folgendes 12-Kanal-EKG ab:

EKG 1: Bei Ankunft in der Wohnung

Du begutachtest sorgfältig das EKG. Bevor du dich weiter festlegen willst, erfragst du noch nach Risikofaktoren (er raucht) und nach der Familienanamnese (Vater mit Mitte 50 Myokardinfarkt). 

Während du die Anamnese erhoben hast, hatte die Auszubildende das EKG noch genauer angeschaut und fand die Ableitungen III, aVF und II „irgendwie auffällig“. Der anwesende Praxisanleiter hatte daraufhin bei diesen Ableitungen folgende Markierungen hinterlegt:

EKG 1 mit Markierungen

„Mini-Hebung in III“ lächelt er…und die Auszubildende verstummt.

Du bist nun ratlos, als Transportführer sollst du entscheiden. Im Team kommt die Frage auf, ob ein Transport zwingend notwendig ist. Mittlerweile möchte auch der Patient nicht mehr mit in die Klinik, da er nun vollkommen beschwerdefrei ist.

Du fasst zusammen: Beschwerden sind auf der „falschen“ Seite, nun auch schon vorüber, für Pneu gibt es keinen Anhalt. Du siehst folgende Optionen:

  • Zu Hause lassen, wieder anrufen, wenn Beschwerden auftreten und morgen beim Hausarzt melden.
  • Ins Krankenhaus nehmen und Thoraxschmerzen unkl. Genese abklären lassen
  • Ins KH nehmen und ACS (aber kein STEMI) abklären lassen, ggf. ASS geben
  • Ins KH nehmen, dort Voranmeldung als STEMI zur akuten Herzkatheterbereitschaft, Behandlung mit ASS / Heparin 

Du entscheidest dich für…. (Fortsetzung weiter unten).

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Ihr beratet euch im Team und möchtet ihn transportieren. Als er weiterhin darauf besteht, zu Hause zu bleiben, beginnst du, ihn über die Risiken aufzuklären. Dabei mischt sich seineEhefrau ein und empfiehlt ihm mehr als deutlich die Mitfahrt. Dieser stimmt daraufhin zu.

Ihr hattet über eine Therapie mit ASS und Heparin diskutiert. Da du aber einen Pneumothorax nicht sicher ausschließen kannst, beginnst du keine medikamentöse Therapie. Ihr fahrt den Patienten, bei dem ihr kein ABCD-Problem feststellen konntet, ohne Sonderrechte bei einer vermuteten Fahrtdauer von 20 min.

Auf dem Transport beginnen die Schmerzen nach 10 min. wieder. Sie seien jetzt sogar noch stärker als vorhin und strahlen in den Hals aus.

Du denkst an zwei Optionen:

➔ Anhalten, EKG schreiben

oder

➔ Weiterfahren, in 10 min. sind wir ja da

Du entscheidest dich für…. (Fortsetzung weiter unten)

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Du lässt den RTW an einer sicheren Stelle anhalten, ihr schaltet zur besseren Sichtbarkeit Blaulicht ein. Nun leitest du erneut ein 12-Kanal-EKG ab, dieses zeigt:

EKG 2: Während des Transports

Du bewertest das EKG folgendermaßen:  

Signifikante ST-Hebungen in III, aVF und II.

Jetzt lächelt die Auszubildende.

Du änderst dein Vorgehen folgendermaßen:

  • ASS, Heparin 
  • Änderung der Voranmeldung: inferiorer STEMI. Das EKG wird vorab in die Klinik geschickt.
  • weiter mit Sonder- & Wegerechten
  • Analgesie

Ihr trefft auf ein gut vorbereitetes ZNA-Team, die Kardiologin ist ebenso verständnisvoll und kommt für diesen Fall extra aus dem Hintergrunddienst in die Klinik.

Es zeigt sich eine hochgradige RCA-Stenose, die mittels PTCA und Stenting behandelt wird.

Im Nachhinein nehmt ihr das 1. EKG noch einmal extra-nerdig unter die Lupe:

Es liegen tatsächlich (nicht signifikante) ST-Hebungen in III, aVF und II vor. Diese entsprechen zwar nicht den STEMI-Kriterien, können aber dennoch hinweisgebend auf einen akuten Koronarverschluss sein. Solche EKGs werden okklusiver Myokardinfarkt (OMI) genannt und diese Patienten benötigen ebenfalls eine umgehende Herzkatheteruntersuchung.

Außerdem sind auf der „gegenüberliegenden“ Seite ST-Senkungen zu sehen (in diesem Fall in I und aVL). Man sollte bei Detektion von (nicht-signifikanten) ST-Hebungen immer nach kontralateralen ST-Senkungen suchen, die die Diagnose eines OMI unterstützen können.

Weiterhin sieht man in der Ableitung III ein biphasisches T (roter Kreis). Dieses kann ein Hinweis auf ein akutes Koronarsyndrom mit passagerem Koronarienverschluss sein, siehe auch hier.

Zudem ist der vierte Schlag eine VES, in der sich ST-Hebungen in III und aVF zeigen und auch die ST-Negativierungen in I und aVL deutlich zutage treten. Da ihr euch nicht sicher seid, ob das in VES überhaupt zu verwerten ist, macht ihr eine Internetrecherche und findet heraus, dass das sehr wohl möglich ist. Siehe im Smith ECG Blog

Dort steht u.a. (Achtung: Extra-nerdig), dass bei rechtsschenkelblockartiger Konfiguration der VES die ST-Strecke auf der gegenüberliegenden Seite von R´ sein sollte, d.h. gesenkt. Aber in diesem Fall ist sie erhöht als konkordante ST-Hebung. Dieses ist ein sehr spezifisches Zeichen eines OMI.

Ihr überlegt gemeinsam, was ihr hättet anders machen können und kommt zu dem Schluss, dass ihr das EKG von Beginn an telemedizinisch hättet bewerten lassen können (in die Klinik oder – falls vorhanden – Telenotarzt). Ansonsten arbeitet ihr im De-Briefing auch positive Punkte heraus, insbesondere die Entscheidung, während des Transports anzuhalten und ein erneutes EKG zu schreiben, bewertet ihr als sehr gut.

Learning points:

Thorakale Beschwerden unklarer Genese sollten grundsätzlich eine weitere Abklärung mit Verlaufs-EKG und Troponin-Bestimmung in der Klinik nach sich ziehen. Erst recht gilt das, wenn die Beschwerden stark gewesen sind und kardiovaskuläre Risikofaktoren vorhanden sind (besonders Nikotinabusus!).

Im Verlauf und speziell bei Beschwerdeänderung sollte unbedingt ein erneutes 12-Kanal-EKG angefertigt werden, um ggf. dann aufgetretene ST-Hebungen nachweisen zu können.

Schmerzen auf der rechten Seite können sehr wohl hinweisgebend auf ein kardiales Ereignis sein. (Laut einer Studie [allerdings aus 1990] ist die Wahrscheinlichkeit für ein ACS bei rechtsseitigen Schmerzen sogar größer als bei an anderen Stellen lokalisierten Schmerzen. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/2255353/ )

Literaturhinweis:

Grautoff S, Fessele K, Fandler M et al. Coronary Circulationin der EKG-Diagnostik. Notfall Rettungsmed 23, 457–459 (2020). https://doi.org/10.1007/s10049-020-00729-0

6 Gedanken zu „EKG Case: Thoraxschmerzen auf der „falschen“ Seite“

  1. Aus Erfahrung weiß ich, der gute Herr um die 40 kann recht froh sein, dass er Schmerzen bekam und nicht einfach umfiel und unter laufender Real ins HKL kam.

    1. Wohl wahr…alle, die einen Myokardinfarkt erleiden, können froh sein, wenn es nicht zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommt. In diesem Fall kann er zusätzlich froh sein, dass das EKG richtig gedeutet wurde.

  2. Danke für diesen (wieder einmal tollen) Fall! Ich stelle leider immer wieder fest, dass das Thema „OMI EKG“ innerklinisch noch nicht angekommen zu sein scheint, häufig begleite ich als NA Patienten mit auffälligem EKG, welches in der ZNA als „nicht signifikant“ o.ä. Abgetan wird… ich freue mich auf den Augenblick, wenn nicht mehr nur das klassische STEMI EKG zum direkten Transfer ins HKL führt!

  3. V1R bis V6R?
    15% aller inferioren Infarkte
    betreffen den rechten Ventrikel,werden aber aber auf dem normalen 12Kanal EKG
    nicht abgebildet.
    Unbedingt Paddles kleben.
    Wenn rechtsventrikuläre ST-Hebungen keine Vorlastsenkung.
    Vorsichtige Volumenboli.

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