NERDfacts Folge 2/2023 Kindeswohlgefährdung

Kindeswohlgefährdung

Heute haben wir ein schwieriges aber umso wichtigeres Thema für euch: Kindeswohlgefährdung. Sowohl im Rettungsdienst als auch in der Notaufnahme wird man immer wieder damit konfrontiert. Viele sind im Umgang mit diesem Thema unsicher: Ist es wirklich Misshandlung? Was mache ich jetzt? Wie sieht es mit der Schweigepflicht aus? Darf oder muss ich sogar die Polizei einschalten?

Das pdf zu dieser Folge findet Ihr hier:

Bei diesen Facts haben wir kompetente Unterstützung durch Dr. med. Christian Karpinski. Christian kommt ursprünglich aus Berlin, hat im Verlauf aber in Freiburg studiert und arbeitet seit 2014 in der Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie des Universitätsklinikums Dresden. Mittlerweile ist er zuständiger Facharzt für die kinderchirurgische Notaufnahme und leitet die Kinderschutzgruppe des Uniklinikums Dresden. Die Behandlung von Kindern dort umfasst das Spektrum von Neugeborenen bis jugendliche Patienten. Er ist zertifizierter Kinderschutzmediziner (DGKiM) und auch präklinisch als Notarzt tätig. In seiner Freizeit beschäftigt er sich gern mit jeglicher Art von Sport, vorrangig dem Laufen, Schwimmen und Fahrradfahren in Form von Triathlons und Swimruns. Vielen Dank nochmal an dieser Stelle für den tollen Input. Und ihr dürft gespannt sein. Dies war nicht das letzte Mal, dass ihr von Christian hören werdet.

Fact 1 – ERKENNEN!

Laut dem Statistischen Bundesamt wurden 2021 59.900 Kindeswohlgefährdungen durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt festgestellt. Die Dunkelziffer ist vermutlich deutlich höher. Gerade der Rettungsdienst kommt unerwartet in Wohnungen und beobachtet häufig Auffälligkeiten, die sonst kein Außenstehender mitbekommen würde. Das können andere Familienmitglieder in schlechtem Allgemeinzustand sein oder aber heruntergekommene Wohnungen, in den Kinder leben. Auch bei Gewalt zwischen Elternteilen sollte daran gedacht werden, dass die Kinder ebenfalls Gewalt ausgesetzt sein können. Diese muss nicht unbedingt körperlicher Natur sein. Beobachtungen, die im Einsatz gemacht werden, sollten unbedingt an das behandelnde Team in der ZNA weitergegeben werden.

Auch in der ZNA stellen sich Patienten vor, die ein auffälliges Verletzungsmuster aufweisen, sich wiederholt vorstellen oder von den Eltern vorgestellt werden. Weitere Aspekte, auf die geachtet werden sollte, findet ihr in den nächsten Facts.

Fact 2 – ANAMNESE!

Ist die Anamnese nicht nachvollziehbar, der Traumamechanismus unrealistisch oder widersprechen sich die Angaben der Beteiligten, sollte man aufmerksam werden. Passt die Geschichte nicht zu den Verletzungen, sollte man auch an eine Misshandlung denken. Verletzungen müssen zum Bewegungsradius und Alter der Kinder passen. Säuglinge sind in der Regel nur wenig mobil. Dagegen sind Kleinkinder bereits in der Lage zu laufen oder zu rennen und können so andere Verletzungsmuster aufweisen, die bei Säuglingen ohne fremdes Dazutun nicht möglich sind. Auch eine verzögerte oder ständig wechselnde ärztliche Vorstellung ist auffällig.

Fact 3 – VERLETZUNGSMUSTER!

Verletzungen am Rücken, oberhalb der Hutkrempe, an den Genitalien oder anal und an den Ohren sind untypisch für unfallbedingte Verletzungen. Verletzungen unterschiedlichen Alters oder gruppiertes Auftreten sind auffällig. Geformte Verletzungen, die einen Gegenstand abbilden, sind hochgradig verdächtig auf eine nicht akzidentell beigebrachte Verletzung. Handschuh- oder strumpfförmige Verbrühungen weisen auf eine willentlich zugeführte Verletzung durch Eintauchen der Extremitäten in heiße Flüssigkeiten hin.

Fact 4 – RECHTSSICHERE DOKUMENTATION!

Besteht der Verdacht auf eine Misshandlung oder Vernachlässigung, sollten die Verletzungen rechtssicher dokumentiert werden. Hierzu gehören Fotos (Nahaufnahme und Übersicht) mit Maßstab (in der ZNA), eindeutige Beschreibung der Verletzungen inkl. Lokalisation sowie eine objektive und wortwörtliche Anamnese („Zitate“, keine Interpretation in das vom Kind Gesagte) – denn: Gerichtsverfahren können viele Monate später stattfinden. Die Erinnerungen sind dann häufig nicht mehr so frisch. Die korrekte und für unbeteiligte nachvollziehbare Dokumentation ist daher essenziell. Lässt die Dokumentation Unklarheiten offen oder ist nicht eindeutig, wird es für das Opfer schwer, die Misshandlung zu beweisen. Wichtig ist zudem eine detaillierte mündliche Übergabe an die weiteren Behandler im Krankenhaus.

Fact 5 – HILFE FÜR HELFER!

Eine solche Situation ist auch für die Helfer schwierig. Ein Generalverdacht für die Kinder und Eltern ist schädlich und oft gibt es Unsicherheiten im Umgang mit Fürsorge- vs. Schweigepflicht.

Im Zweifelsfall gilt: „Kinderschutz vor Datenschutz“

Gemäß dem rechtfertigenden Notstand (§34 StGB) darf zur Abwendung von Gefahr daher die Schweigepflicht gebrochen werden. Auch wurde im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)
§ 4 geregelt, wie mit Verdachtsfällen umzugehen ist.

Rat bieten hier die lokalen Kinderschutzgruppen oder die AWMF S3+-Kinderschutzleitlinie samt Kitteltaschenkarten der DGKiM (Materialien und Listen der Kinderschutzgruppen unter www.dgkim.de)

Persönlich und notfallmäßig erreichbar, bietet die „Kinderschutzhotline“ eine (auch anonyme) Beratung von und für medizinisches Fachpersonal – hier gibt es sogar auch eine kostenlose App mit vielen Zusatzinfos! (Download kostenlos im Google Play Store oder Apple Store). Falls vorhanden sollten hauseigen SOP beachtet werden.

Tel.: 0800 19 210 00 (24/7)


Quellen und weiterführende Infos:

Kinderschutz Hotline

Kinderschutz und Kindeswohl – Statistisches Bundesamt (destatis.de)

Alle Kinderschutzgruppen auf einen Blick — DGKiM

Leitlinien im medizinischen Kinderschutz — DGKiM

https://www.gesetze-im-internet.de/kkg/__4.html

Autor: Tim Eschbach

Ich bin leidenschaftlicher Notfallmediziner und Notarzt. Ich engagiere mich für die Fort- und Weiterbildung im Bereich der inner- und präklinischen Notfallmedizin, insbesondere im Bereich SOPs, CRM und Fehlerkultur.

2 Gedanken zu „NERDfacts Folge 2/2023 Kindeswohlgefährdung“

  1. Eine gute Zusammenfassung. – Ein Hinweis: der rechtfertigende Notstand findet sich in § 34 (nicht 35) StGB. Zudem sollte § 4 KKG als spezielle Norm nicht unerwähnt bleiben.

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