NERDfall Nr. 30 – Teil 2: Die präklinische Frühgeburt

Ein Fall, der in dieser Konstellation zum Glück die aller aller wenigsten von uns ereilen wird aber dennoch wunderbare Diskussionsgrundlage für Geburtsbegleitung und Neugeborenenversorgung geboten hat.
Wir können uns nur wieder gewaltig bei der einreichenden Person bedanken, welche ihre Extremerfahrung hier so offen mit uns geteilt hat – vielen Dank!
Und damit folgt auch schon wieder die Fallauflösung samt kleinem Jubiläums-Expert:innen-Interview zu diesem unglaublichen Ausnahmeeinsatz. viel Spaß ☺️

[Teil 1 verpasst? Dann schau’ doch erstmal hier vorbei]

Zurück im RTW:
Während sich NFS und NEF-Fahrer um die Mutter kümmern, versuchen NA und RS das Kind zum Atmen zu animieren. Es kommt der Beatmungsbeutel und vorsichtig der Orosauger zum Einsatz, begleitet von gezieltem Reiben. Parallel wird vom NA die Nabelschnur abgeklemmt, durchtrennt und versorgt. Es fällt der Satz „Wenn das nicht hilft, sind wir in der Reanimation.”. Doch nach ca. 3 min atmet es! Ein Schreien ist es jedoch noch lange nicht. Es wirkt sehr schwach und hat kaum einen Muskeltonus. Der NA schätzt den neugeborenen Jungen auf ca. 800g bei 25cm. Der O2-Sensor wird am Fuß angebracht und ergibt Werte um die 88%. Der Mutter wurde inzwischen eine Vollelektrolytlösung angehängt und 6 IE Oxytocin i.v. verabreicht.
Als ihr inzwischen ein etwas rosigeres, agileres Kind gereicht wird, lehnt sie dieses zunächst sichtlich überfordert ab. Nach kurzem Zureden nimmt sie es jedoch zögerlich zu sich auf die Brust. Der Vater wird in den RTW geholt und darf seinen Sohn kennenlernen. Danach geht das Frühgeborene jedoch wieder zurück zum Team und bekommt locker etwas O2 per Kindermaske vorgehalten. Wenige Minuten später kommt die Nachgeburt. Als der Baby-RTW vorfährt, werden alle Beteiligten auf den aktuellen Stand gebracht und Hebamme und Pädiater verschwinden samt Neugeborenen (zu diesem Zeitpunkt APGAR 8) im Baby-RTW. Die Mutter verbleibt mit dem Notarzt und Besatzung im RTW und der Maximalversorger der nächsten Großstadt wird angesteuert. Der 45-minütige Transport verläuft ohne weitere Komplikationen. In der Klinik angelangt, wird die Mutter in den Kreißsaal und das Neugeborene auf die Neo-Intensiv gebracht.
Mutter und Kind verbleiben bis zum eigentlichen Geburtstermin in der Klinik und können anschließend in gutem Allgemeinzustand und ohne ersichtliche Folgeschäden entlassen werden.


Puh was ein Fall!
Als wenn eine präklinische Geburt nicht schon herausfordernd genug für Unroutinierte wäre, kommen hier gleich noch einige -zum Glück seltene- Besonderheiten hinzu.
Deswegen habe ich uns Hebamme Stefanie Gotthardt und Silja Wurm, Notfallsanitäterin & Praxisanleiterin auf dem Baby-NAW in Nürnberg, dazugeholt – Geburtsbegleitungspower pur!
Einige werden die beiden schon aus vorherigen Videos kennen, die ich euch unten verlinkt habe. Hier soll es daher ausschließlich um die Geburts-Spezialitäten des NERDfalls gehen:

Und damit viel Spaß mit unserer kleinen Gesprächsrunde:

Vielen Dank Steffi und Silja für diesen praxisnahen, hilfreichen und sympathischen Austausch!

Wer keine Zeit oder Nerven hat, sich das gesamte Video anzuschauen, kann gerne auch zu den einzelnen Themenkomplexen spulen oder sich im Folgenden auf die reinen Fakten konzentrieren:

Die präklinische Frühgeburt
1. Abdominelle Schmerzen in der späten Schwangerschaft (1:18 min)
2. Geburtsbeurteilung & -begleitung in der Präklinik (3:24 min)
– Tipps für den RTW (10:30 min)
3. “Geburtsstillstand– was nun? (15:36 min)
4. Specials der Frühgeborenen-Versorgung (19:21 min)
5. Die Rolle von Oxytocin (28:07 min)
6. Der APGAR-Score

Hier der im Video gezeigte Mutterpass – In Akutsituation reicht ein einfaches Aufklappen dieser Doppelseite:

Linke Seite

Rechte Seite

1. Abdominelle Schmerzen in der späten Schwangerschaft

  • Im Zweifel immer vom Schlimmsten ausgehen ➔ zügig in (Perinatal-)Klinik
  • Schwanger + Bauchschmerzen = immer wehenverdächtig
  • Zeichen für Entwarnung gibt es leider keine

2. Geburtsbeurteilung & -begleitung in der Präklinik

Beurteilung der Geburtsphase

  • Immer schwierig
  • Enger Kontakt zur gebärenden Person enorm wichtig – wie fühlt sich was an? Was hat sich verändert?
  • Verschiedene Geburtswehen-Arten:
    1) Eröffnungswehen
    – Ca. im Abstand von 15-5min; regelmäßig oder unregelmäßig
    – Im Geburtsverlauf immer kürzer werdender Abstand
    – Können bei bereits stattgefundenen Geburten übersprungen werden
    2) Press- oder Austrittswehen
    – Treten nach vollständiger Muttermundöffnung auf
    – Können nicht veratmet werden
    – Ca. im Abstand von 2-3min
  • Keine Diagnose durch die Hose:
    – Köpfchen sichtbar?
    – Öffnen sich Schamlippen? …durch heraustretendes Köpfchen
    – Klaffender After?
  • Generell: Umso mehr Geburten bereits stattgefunden haben, desto zügiger wird meist die aktuelle Geburt meistens ablaufen.
  • Mehr Tipps dazu hier: Geburtshilfe im RD mit Steffi – Teil 1 & Teil 2

Geburtsbegleitung

  • Präklinische, RD-begleitete Geburt = Ungeplant = Überforderung auch für Gebärende
  • Ruhe bewahren, ausstrahlen und “Stütze” sein
  • Sich bewusst machen: läuft in den meisten Fällen komplikationslos ab und kann sehr schönes Erlebnis für alle werden ☺️
  • Intimssphäre wahren!
  • Geburtsposition selbst wählen lassen
  • Schwangere wissen, wie sie atmen müssen
  • Vater miteinbeziehen
  • Mehr allgemeine Tipps hier: Geburtshilfe im RD mit Steffi – Teil 1 & Teil 2
  • im RTW:
    – Wenn möglich: Pre-Briefing auf Anfahrt inkl. Aufgabenverteilung
    – Aktives Wärmemanagement!
    – Nicht elektrohydraulische Tragen ggf. andersherum, heißt Fußteil voran, in den RTW schieben (laut den uns bekannten Herstellern zugelassen)
    Vorteil: Etwas mehr Platz, um zwischen den Beinen zu agieren und diese ggf. anzustellen
    Nachteil: Man kommt sich ggf. personell in die Quere, wenn später am NG-Versorgungsplatz gearbeitet wird + je nach NG-Versorgungssituation Stressbelastung für Mutter
    – Gebärender Haltestangen und Griffe anbieten
    Storchennest vorbereiten:
Neugeborenen-Versorgungsplatz, sog. “Storchennest”, im RTW

3. “Geburtsstillstand– was nun?

  • Begriff Geburtsstillstand definiert fehlenden Geburtsfortschritt über mehrere Stunden ➔ in unserem Fall eher protrahierte Austrittsphase
  • Einsicht: man kann im RD nicht jedes geburtshilfliche Problem lösen.
  • Häufigster allgemeiner Grund: Schulter-Dystokie
    = Einstellungsanomalie ➔ Kopf bereits geboren, Schultergürtel hängt im Becken fest
    Typisches Zeichen: “Turtle-Sign” = Kopf zieht sicher eher zurück als zu kommen
  • Bewegung im Becken kann helfen!
    – Mit Gesäß hin und her rutschen lassen
    – Gebärende auf die Seite/n drehen lassen
    – Wenn das nicht hilft: McRoberts Manöver
    ➔ 3x Knie zur Brust ziehen und wieder ausstrecken lassen
  • Immer telefonische Kontaktmöglichkeit mit Fachdisziplin im Hinterkopf haben und ggf. nutzen!

4. Specials der Frühgeborenen-Versorgung

  • Häufigste Ursachen für Frühgeburt: Infektionen (insb. Triple I = intrauterine inflammation or infection or both), Mehrlingsschwangerschaft, Polyhydramnion, Alter der Schwangeren (<20/>40J), Fehlbildungen/OPs der Gebärmutter, Stress, vorherige Frühgeburten, hypertensive SS-Erkrankungen, Rauchen
  • Wärmeerhalt, Wärmeerhalt, Wärmeerhalt!
    u.a. durch Dampfsperre in Form eines “Tüten-Neoprenanzuges”(s. Bild unten); davor nicht abreiben/-trocknen
  • Lunge noch nicht vollständig entwickelt ➔ Meist Druck-Unterstützung nötig
    ERC Empfehlung: Bei prolongierter Beatmung initialen Spitzendruck von 25 cmH2O anstreben
    Beim Reifgeborenen = 30cmH2O
  • Unbedingt Druck-Manometer am Beatmungsbeutel nutzen
  • Bei Frühgeborenen etwas Sauerstoff bei der prolongierten Beatmung nutzen
    < 28. SSW: FiO2 30% empfohlen
    Frühgeborene 32.-28. SSW: FiO2 21-30%
    Reifgeborene: FiO2 21% = Raumluft
  • Oft noch anfälliger für Hypoglykämien
  • “Tiny babies need to be kept warm, sweet and pink.” Ben Lawton, DFTB
  • Für die 1+ mit *: Beim Abnabeln von Frühgeborenen Nabelschnur zum Kind hin ausstreichen
  • Auch hier gilt: Bei Unsicherheiten immer telefonische Kontaktmöglichkeit mit Fachdisziplin im Hinterkopf haben und ggf. nutzen
Top-Tipp der Frühgeborenen-Versorgung: Der Tüten-“Neoprenanzug”

5. Die Rolle von Oxytocin

  • Generell: Körpereigenes Hormon
  • Medizinischer Nutzen:
    – Führt zur Kontraktion des Uterus ➔ Beugt atonischer Uterusnachblutung vor
    – Kann bei der Plazentalösung unterstützen
  • AWMF-Leitlinie “Peripartale Blutungen, Diagnostik und Therapie“:
    Prävention peripartale Hämorrhagie ➔ 3-5 IE Oxytocin als Kurzinfusion

6. Der APGAR-Score

Da doch nahezu unumgänglich im Geburtskontext und auch im letzten Fall-Teil gefallen, hier einmal der APGAR-Score zur Verlaufsbeurteilung der Neugeborenen-Adaption nach Geburt. Es gilt jedoch:

Im Zweifel nicht mit Score verrückt machen ➔ Eyeballing:
Sieht das Kind gut aus oder schlecht?

APGAR-Score zur Beurteilung der Neugeborenen-Adaption nach Geburt

Take Home Messages – Nerdfall 30 “Die Frühgeburt”

> Schwangere mit abdominellen Schmerzen immer zügig in einer Fachklinik vorstellen.

> Stehender Geburtsvorgang

Häufigster Grund = Schulter-Dystokie; typisches Anzeichen = “Turtle Sign”
Bewegeung ins Becken bringen:
– mit Gesäß hin und her rutschen lassen
– Auf Seite/n drehen
– McRoberts Manöver: 3x Knie zu Schultern ziehen und wieder ausstrecken lassen

> Frühgeborenenversorgung:

– Wärmeerhalt, Wärmeerhalt, Wärmeerhalt!
– Nicht trocken reiben ➔ Tüten-Neoprenanzug nutzen
– bei prolongierter Beatmung initialer Spitzendruck von 25 cmH2O + etwas Sauerstoff (Optimal FiO2 = 30%)

> Nach Geburt zur Blutungsprophylaxe: 3-5 IE Oxytocin als Kurzinfusion

Hier das erwähnte, bereits bestehende Nerdfallmedizin-Geburtsmaterial + Weiteres:

  • Videos inkl. Shownotes und allen aktuellen Leitlinien:
    Geburtshilfe im Rettungsdienst mit Hebamme Stefanie Gotthardt
    Teil 1: Anamnese & Untersuchung
    Teil 2: Das Kind kommt!
    Neugeborenenversorgung mit Baby-NAW-Notfallsanitäterin Silja Wurm
    Teil 1: Vorbereitung ist die halbe Miete (inkl. Storchennest)
    Teil 2 & 3: Neugeborenen-Versorgung (Basic & Advanced)
  • Shortcut zur Neugeborenen-Versorgung

Teilt natürlich gerne wieder eure abschließenden Gedanken in der Telegram-Gruppe!


Von euch erlebte Fälle, sammeln wir weiterhin hier: präklinisch und hier: innerklinisch. Wir sind gespannt!

Es bestehen keine Interessenkonflikte.

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