Auf dem diesjährigen DGINA-Kongress durfte ich einen Vortrag zum obigen Thema halten. Um den Detail-Interssierten alle Quellen und Hintergrundinfos aber auch allen Andersweitig-Beschäftigten das recherchierte Wissen zur Verfügung zu stellen, hier ein kleiner Wrap-Up:
Kurz Vornweg:
Auch wenn hier explizit das Thema Überversorgung behandelt wird, darf auf der anderen Seite das Thema Unterversorgung nicht hinten überfallen!
Zudem sollen hier keine systemischen Probleme aufbereitet und diskutiert, sondern viel eher der Rattenschwanz beleuchtet werden, den z.T. vorschnell-routiniert getroffene Entscheidungen nach sich ziehen können.
Was versteht man unter Überversorgung?
- Keine einheitliche deutsche Begriffsdefinition
z.T.: Überversorgung = Überdiagnostik + Übertherapie
oder auch:
Übertherapie = mit Schaden für Patient*innen verbunden
Überversorgung = kein Schaden für Patient:innen selbst, jedoch eindeutige Versorgung über notwendiges Maß hinaus - Generell: Potentieller Schaden > Potentieller Nutzen
- Referenzwert: Was empfiehlt Leitlinie? bzw. wie stark ist die Nutzen-Evidenz der Maßnahme?
In Diskussion: + Was möchte Patient:in nach Aufklärung? - Uneindeutige Grauzone ergibt sich bei Maßnahmen, deren Evidenz umstritten ist

Brownlee S, Chalkidou K et al – Lancet. 2017
Welche Probleme ergeben sich daraus?
- “Inzidentalome“: zufällige Beibefunde, die womöglich nie Probleme gemacht hätten
Bspw. Wirbelsäulen- oder Knie-Degenerationen, die mit zunehmendem Alter bei immer mehr Personen asymptomatisch bestehen:

Brinjikji W, Luetmer PH et al. – AJNR Am J Neuroradiol. 2015

- Probleme durch ungezielte Blutentnahmen:
– längere KH-Aufenthaltsdauer…auch in ZNA
– Iatrogene Anämien insb. bei chron. Kranken/langen KH-Aufenthalten
➔ Routine-Abnahme bei Verlegungen über ZNA hinterfragen
– Häufigere EK-Transfusionen
(1) Do blood tests cause anemia in hospitalized patients? The effect of diagnostic phlebotomy on hemoglobin and hematocrit levels. Thavendiranathan P et al – J Gen Intern Med. 2005
(2) Reducing the number of unnecessary routine laboratory tests through education
of internal medicine residents. Faisal A et al – Postgrad Med J. 2018
- Für Patient:innen
- Nicht-Wirklich-Kranke
– Nebenwirkungen, Komplikationen, Strahlenbelastung
– Stress, Angst
– Schlechtere Versicherungsbedingungen
– Verurteilung im Umfeld
– Einschränkungen in Berufswahl - Wirklich-Kranke
– Fehlende Aufmerksamkeit
– Behandlungsfehler
– Antibiotikaresistenzen
- Nicht-Wirklich-Kranke
- Für das Gesundheitswesen
- Personal
– Arbeit / Überarbeitung
– Stress, Unzufriedenheiten
– Strahlenbelastung - Institutionen
– Kosten
– Personalmangel
- Personal
- Für die Umwelt
– Ressourcenverschwendung
– Müll
– Antibiotikaresistenzen
… und vieles mehr.
Die obigen Probleme stehen jedoch nicht alle einzeln für sich, sondern stehen zum Teil in einer komplexen Wechselbeziehung zueinander:

Wo liegen die Ursachen?
Technischer Fortschritt | Sensitivere und immer mehr Tests/Geräte auf dem Markt |
Technikgläubigkeit | “Wenn das Gerät das misst, dann stimmt das schon” Laborergebnisse/Bildgebung > eindeutige Low-Risk-Anamnese |
Ärztliche Erwartung | – Bias – “Na das finde ich schon raus” = Ehrgeiz/Neugier – kollegialer Druck/Ansehen |
Patient:innen-Erwartung | …auch durch unzureichende Aufklärung über Alternativ-Optionen |
Haftungsbedenken “Defensive Medizin” | “Ich muss jedes noch so kleine Risiko sicher ausschließen, der kennt doch xy/Sohn ist Anwalt/sie meint sie beschwert sich sonst beim Chef” Aber: “Primum non nocere” – Übertherapie birgt ungerechtfertigt Schadensrisiko = potentielle Körperverletzung |
Mangelnde Erfahrung | |
Mangelndes Wissen | Bzgl. neuen Leitlinien aber auch Sensitivitäten/Spezifitäten oder Begrifflichkeiten wie absolutes/relatives Risiko |
Mangelnde Aufklärung über Überversorgung | In Ausbildung/Uni eher Thema, was alles möglich ist |
Stress / Zeitmangel | Ordentliche Anamnese kostet manchmal Zeit und Geduld … dabei wäre sie so effektiv 1,2,3 |
Forschungsagendas | |
Finanzielle Anreize | |
Neudefinitionen | Grenzen von bspw. art. Hypertonie/Diabetes II und damit Risikofaktoren, werden eher immer niedriger als höher angesetzt |
Negativempfehlungen < Positivempfehlungen | In Leitlinien sind meist mehr “Man soll/sollte” als “Man soll nicht/sollte nicht” Empfehlungen formuliert. |
Fortbildungszwecke | Selbst wenn wir Newbies uns natürlichen freuen und die Patient:innen einverstanden sind, handelt man sich oft unverhältnismäßige, erst auf den 2. Blick greifbare Probleme ein. |
Resistenz von Vorgehensweisen | – Keine offiziellen SOPs bzw. vernachlässigte Überarbeitung – Eingeschlichene Routinen – Mangelnde Kritikfähigkeit auf deligierender Seite |
Hilflosigkeit | Irgendwas machen fühlt sich anfangs trügerischerweise immer besser an, als erstmal nichts zu tun |
Bequemlichkeit | Nachdenken ist anstrengend – “Schrotflinte ansetzen” deutl. weniger. |
Notfallmedizin-Spezifische Ursachen | |
Weichenstellung | Wegweisende Diagnostik z.T. unumgänglich Anordnungen von invasiveren Maßnahmen fallen dadurch z.T. leichter |
Position zw. versch. Fachrichtungen | In Präklinik muss sich z.T. auf der Straße für richtige Klinik mit ggf. langen Transportstrecken entschieden werden In Klinik: Erwartung sich ggf. für zuweisende Entscheidung rechtfertigen zu müssen |
Unbekannte/bewusstlose/agitierte Patient:innen | Keine Vorinformationen bekannt, wie meist in Allgemeinmedizin oder Fachkliniken |
Zügige Entscheidungsfindung | – Bei instabilen Patient:innen – Um Andrang/Einsatzaufkommen Stand zu halten |
2 Contributions of the history, physical examination, and laboratory investigation in making medical diagnoses Peterson MC et al – West J Med. 1992
3 A study on relative contributions of the history, physical examination and investigations in making medical diagnosis Roshan M, Rao AP – J Assoc Physicians India. 2000
Lösungsansätze

Der internationale Vorreiter: Choosing-Wisley
– Gründung: 2012 durch das American Board of Internal Medicine
– Leitidee: Angemessene Ressourcenverteilung zum Allgemeinwohl
– Zielgröße: Medizinisches Outcome + personelles Wohlbefinden + Patient:innen-Zufriedenheit
– Erstellen von Top-5-Listen durch jede Fachgesellschaft in Kooperation mit Patient:innen-Vertretungen
= freiverfügbares PDF, A4 2 seitig, in Patient:innen-gerechter Sprache
= 5 Empfehlungen + Evidenzbasierte Quellen + transparente Erklärung der Empfehlungsfindung
Hier bspw. die Liste der pädiatrischen Notfallmedizin:

+ wechselnde, catchy Aufklärungskampagnen für Patient:innen, hier bpsw. von Choosing-Wisely Canada:

Ansätze in Deutschland
Klug entscheiden e.V. der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM)
– Einsatz gegen Unter- und Überversorgung
– Aktuell 12 internistische Fachgesellschaften vertreten
– Formulierung von Positiv- und Negativempfehlungen, Fortbildungen inkl. CME-Onlinekursen, kostenloser Sammelband (PDF) aller Erkenntnisse und Empfehlungen

Ansätze für das eigene Arbeitsumfeld
Die Right Care Alliance des Lown Institute hat von 2016-2019 die „RightCare Top 10 in EM“ erstellt.
Kriterien für die Nominierung der Handlungspunkte waren hierbei:
• Auswirkung auf Patient:innen
• Hohes Potential zu schaden oder weiterzuhelfen
• Potential in Routine aufgenommen oder ganz vermieden zu werden
• Stellt systematisches Problem dar

Erklärt werden die Hintergründe der einzelnen Punkte hier in der entsprechen Publikation.
Da jedoch einige der Punkte sehr amerikanische Probleme fokussieren, hier ein paar allgemeine Vorschläge, die sich bei mir durch diese Recherche aufgedrängt haben:
• Einsicht 1: Bei minimalem Risiko, keine Maximaldiagnostik nötig
• Einsicht 2: Nicht alle Patient*innen brauchen in der ZNA eine abschließende Diagnose (bzw. ist das oft gar nicht möglich)
• BBB: Blutentnahmen & Bildgebungen mit Bedacht
• Nicht-medizinische Ursachen für Kontakt erwägen
• Shared-Decision-Making
• Gute Entlassung = Entlastung
– Briefvermerke mit Einordnung von Befunden z.B. „a.e. altersphysiologisch“*
– Bedeutung der Entlass-Anweisungen sehen
• Thema Überversorgung in Lehre aufgreifen
• SOPs regelmäßig überdenken & überarbeiten
*als Orientierung für Weiterversorgende, sodass bei Inzidentalom nicht unwillentlich Diagnostik-Therapie-Spirale in Gang gesetzt wird
+ Don’t Forget the Unterversorgung!
Falls dir noch wichtigte Punkte oder Tipps einfallen, nutze gerne die Kommentarfunktion!
…oder schau vorbei, was deine Kolleg:innen dort bereits für Input hinterlassen haben.
Quellen des Vortrages & weiteres Lesenwertes
- Overdiagnosis in the emergency department: a sharper focus. Vigna M et al. – Intern Emerg Med. 2022
– Hier aufbereitet von first10em - Overdiagnosis of urinarytract infection linked to overdiagnosis of pneumonia: a multihospital cohort study. Gupta A et al. – BMJ Qual Saf. 2022
- Increased diagnosis of pulmonary embolism without a corresponding decline in mortality during the CT era. Burge AJ et al. – Clin Radiol. 2008
- Categorizing and Rating Patient Complaints: An Innovative Approach to Improve Patient Experience. Bayer S et al. – J Patient Exp. 2021
- Burnout and satisfaction with work-life balance among US physicians relative to the general US population Tait D Shanafelt et al. – Arch Intern Med. 2012
- A survey of primary care patients’ readiness to engage in the de-adoption practices recommended by Choosing Wisely Canada. Silverstein W et al. – BMC Res Notes. 2016
- PinCast Folge u.a. zu Choosing Wisely & klug entscheiden (z.T. kostenlos; 2018)
- Abschließend noch ein absolutes Ohrwurm-Gute-Laune-Aufklärungs-Video von James McCormack – Pharmazie Professor der Therapeutics Education Collaboration (u.a. Best Science Podcast)