NERDfacts Folge 4/2023 Angioödeme

Angioödeme

Massive Schwellung, bedrohter Atemweg. Das sind die ersten Stichworte, die einem vielleicht im Zusammenhang mit einem Angioödem in den Sinn kommen. Nicht immer handelt es sich dabei um eine allergische Genese. Im Notfall ist es oft schwer zu unterscheiden, ob es sich um eine allergische Reaktion oder eine andere Ursache handelt. Wir haben für euch die wichtigsten Fakten zum Angioödem zusammengestellt.

Das pdf zu dieser Folge findet Ihr hier:

Einleitung

Angioödeme können ein beeindruckendes bis bedrohliches Ausmaß annehmen. Eine Schwellung im Bereich der Atemwege kann lebensbedrohlich werden. Man unterscheidet grundsätzlich Mastzell-vermittelte von Bradykinin-vermittelten Angioödemen. Die Therapie beider Formen unterscheidet sich grundlegend voneinander. Meist sind Haut, Atemwege und der Gastrointestinaltrakt betroffen, sodass neben Schwellungen im Gesicht auch Atemnot und Bauchschmerzen oder Durchfälle auftreten können. Juckreiz tritt in der Regel nur beim Mastzell-vermittelten Typ auf.

Fact 1 – SYMPTOME!

Bei einem Angioödem kommt es zu einer akuten Schwellung von Dermis, Subkutis und Submukosa. Diese Schwellungen können am ganzen Körper auftreten, betreffen jedoch meist Augenlider, Lippen und Zunge – teils auch den Larynx sowie die Genitalien. Angioödeme halten normalerweise Stunden bis Tage an. Neben Haut und Atemwegen kann der Gastrointestinaltrakt betroffen sein, sodass Bauchschmerzen auftreten können. Juckreiz tritt nur bei Mastzell-vermittelten Formen auf.

Fact 2 – MASTZELL-VERMITTELTES ANGIOÖDEM!

Mastzell-vermittelte Angioödeme werden durch eine Mastzelldegranulation induziert, die entweder allergisch durch IgE oder durch andere Reize (pseudo-allergisch) ausgelöst werden kann. Hierdurch kommt es zu einer Freisetzung von insbesondere Histamin und weiterer Mediatoren. Diese erhöhen die Permeabilität von Gefäßen, sodass Wasser ins Gewebe einströmt. Es kommt zu den Schwellungen und den anderen genannten Symptomen. Typisch (aber nicht obligat) ist das zusätzliche Auftreten von Juckreiz und Urtikaria, welche beim Bradykinin-vermittelten Angioödem nicht vorkommen. Die Symptomatik entwickelt sich in der Regel schneller (<1 Stunde nach Allergenzufuhr) als beim Bradykinin-vermittelten Angioödem.

Fact 3 – BRADYKININ-VERMITTELTES ANGIOÖDEM!

Bradykinin-vermittelte Angioödeme treten bei etwa 1:50.000 Personen weltweit auf. Ursache ist eine Mutation im SERPING1-Gen, welches für den C1-Esterase-Inhibitor codiert. Es sind inzwischen mehr als 700 Varianten bekannt. In 20-25% der Patienten ist die Ursache eine Spontanmutation, die restlichen Formen werden vererbt (autosomal-dominant). Die Mutation führt entweder zu einem Verlust des C1-Esterase-Inhibtors oder zu einer fehlenden Funktion (daher muss im Labor später auch die Aktivität des Enzyms bestimmt werden). Es kommt zu einer vermehrten Bildung oder einem verminderten Abbau von Bradykinin. Der erhöhte Bradykininspiegel führt zur erhöhten Vasopermeabilität und damit zum Einstrom von Wasser ins Gewebe und den typischen Schwellungen.

Es gibt zudem erworbene Formen. Bei autoimmunen und malignen Erkrankungen (z. B. Lymphome) ist ein Auftreten möglich. Auch Medikamente können dies auslösen (v.a. ACE-Hemmer, seltener Sartane).

Charakterisiert ist die Erkrankung durch rezidivierende Schwellungen des Gesichts oder anderer Körperteile. Hinzu können Bauchkrämpfe oder Durchfälle kommen. Die Ödeme bleiben in der Regel wenige (maximal 7) Tage. Juckreiz tritt in der Regel nicht auf.

Die Erstmanifestation ist meist im Alter zwischen 10 und 20 Jahren. Die meisten Patienten kennen im Verlauf ihres Lebens ihre Erkrankung und können von einer entsprechenden medizinischen Vorgeschichte berichten, was die Abgrenzung zu anderen Ursachen einfacher macht. Bei Erstmanifestation oder bisher unklarer Genese bleibt es aber schwer abzugrenzen.

Häufig entstehen die Attacken spontan. Mögliche Trigger können z.B. Traumata, Stress, Infektionen oder Operationen sein. Auch ACE-Hemmer können die Neigung zu Ödemattacken deutlich erhöhen, sodass diese auf keinen Fall bei diesen Patienten eingesetzt werden dürfen.

Fact 4 – THERAPIE!

Die Unterscheidung zwischen Bradykinin- und Mastzell-vermittelter Genese ist im Notfall sehr schwierig. Ist keine Vorgeschichte bekannt, schlagen wir pragmatisch vor zunächst von der (häufigeren) allergischen Genese auszugehen und zunächst eine Therapie wie bei einer Anaphylaxie einzuleiten, auch wenn diese Therapie beim Bradykinin-vermittelten Angioödem nicht wirksam ist.

Mastzell-vermitteltes Angioödem

Die Therapie entspricht der der Anaphylaxie. Lebensrettend ist die rasche Gabe von Adrenalin intramuskulär (siehe hier oder hier). Bei milderen Formen können Kortison und v.a. Antihistaminika eingesetzt werden. Genau wie bei chronisch spontaner Urtikaria muss die Dosis der Antihistaminika ggf. bis auf das 4-Fache gesteigert werden. Das Unterlassen ist ein häufiger Grund für ein Therapieversagen.

Bradykinin-vermitteltes Angioödem

Die Therapie kann “on demand” bei Auftreten von Attacken erfolgen. Inzwischen gibt es Präparate, die der Patient selbstständig anwenden kann. Auch eine Prophylaxe ist möglich. Wichtig ist eine frühestmögliche Therapie bei Auftreten von Symptomen, um eine gefährliche Schwellung der Atemwege möglichst zu verhindern. Zur Verfügung stehen Enzymkonzentrate (z.B. Berinert®). Als Alternative steht Icatibant zur Verfügung. Dieses ist ein synthetisches Peptid, welches Ähnlichkeiten zu Bradykinin hat. Dieses bindet anstelle von Bradykinin am Rezeptor, entfaltet dort jedoch keine Wirkung, sodass die Kaskade gestoppt wird. Icatibant steht auch für die Selbsttherapie durch den Patienten zur Verfügung. Conestat alfa (Ruconest®) ist ein rekombinanter humaner C1-Inhibitor. Auch dieses Medikament ist zur Eigentherapie zugelassen.

Sind die spezifischen Medikamente nicht (schnell genug) verfügbar, kann gefrorenes Frischplasma (FFP) eingesetzt werden, denn auch dieses enthält C1-Esterase-Inhibitor. Kontrollierte Studien existieren hierzu jedoch nicht. Die genaue Menge variiert von FFP zu FFP, sodass die genaue Dosierung unklar ist. In einer Reihe von Einzelbeobachtungen wurden 500ml eingesetzt. Auch andere Bestandteile des FFP können selbst die Entstehung von Angioödemen triggern, sodass FFP wirklich nur verwendet werden sollte, wenn alle anderen Mittel nicht verfügbar sind.

Bei Schweren Attacken werden folgende Dosierungen empfohlen:

C1-Esterase-Inhibitor (z.B. Berinert®)Icatibant (z.B. Firazyr®)Conestat alfa (Ruconest®)gefrorenes Frischplasma (GFP/FFP)
20IE pro kgKG i.v.30mg s.c. (Erwachsene)
bei Kindern gewichtsadaptiert (siehe Fachinfo)
bis 84kg 50 IE pro kgKG
>84kg 4.200 IE i.v.
500ml
(nur wenn o.g. Medikamente nicht verfügbar sind)

Antihistaminika, Kortikosteroide und Adrenalin sind nicht wirksam!

Fact 5 – LEBENSGEFAHR: ATEMWEGSSCHWELLUNG!!

Es kann zu einer lebensbedrohlichen Verengung oder Verlegung der Atemwege kommen. Wichtig sind hier eine schnelle spezifische Therapie und ein effektives Atemwegsmanagement mit frühzeitiger Intubation. Vorsicht: Schwieriger Atemweg! Eine fiberoptische Intubation mit Bereitschaft zur chirurgischen Atemwegssicherung ist der Goldstandard.

Zusatzfacts: Mastzell- vs. Bradykinin-vermitteltes Angioödem

Mastzell-induziertBradykinin-induziert
Onset< 1 Stundelangsamer, meist progredient über mehrere Stunden
UrtikariaTypischidR nicht vorhanden
JuckreizTypischidR nicht vorhanden
TherapieWie AnaphylaxieSpezifische Therapie (siehe oben)
Familienanamnese/
Vorgeschichte
bekannte Allergienpositive Familienanamnese
Ansprechen auf Kortison/Antihistaminika/
Adrenalin
JaNein

Quellen und weiterführende Infos:

Notfall Angioödem (aerzteblatt.de)

The international WAO/EAACI guideline for the management of hereditary angioedema—The 2021 revision and update – Maurer – 2022 – Allergy – Wiley Online Library

061-029l_S1_Hereditaeres-Angiooedem-durch-C1-Inhibitor-Mangel_2019-01_01.pdf (awmf.org)

061-025l_S2k_Akuttherapie-Management-Anaphylaxie_2021-10.pdf (awmf.org)

Angioedema in the emergency department: a practical guide to differential diagnosis and management – PMC (nih.gov)

Autor: Tim Eschbach

Ich bin leidenschaftlicher Notfallmediziner und Notarzt. Ich engagiere mich für die Fort- und Weiterbildung im Bereich der inner- und präklinischen Notfallmedizin, insbesondere im Bereich SOPs, CRM und Fehlerkultur.

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