NERDfall Nr.10: Wir haben ein A-Problem!

Ein warmer Sommertag neigt sich langsam seinem Ende, auf der Rettungswache werden noch lebhafte Diskussionen rund um die aktuelle NERDfall-Telegram-Diskussion geführt… Und der Melder geht schon wieder!

RTW und NEF machen sich direkt auf den Weg zum nahegelegenen Einsatzort – einem Betreuten Wohnen für Seniorinnen und Senioren. Dort angekommen wird das Team von einer Betreuerin in Empfang genommen und zu einer Wohnung im 1.OG geführt. Hier wird eine ältere Dame (85J) angetroffen, welche allein zu leben und in grundsätzlich gutem Allgemeinzustand zu sein scheint. Schon auf den ersten Blick imponiert jedoch eine drastisch geschwollene Zunge, welche bereits mit der Spitze aus dem Mund heraustritt. Sprechen ist nicht mehr möglich, die Patientin scheint bereits etwas angestrengt und beschleunigt zu atmen. Der Hautbefund ist am gesamten Körper in jeder Hinsicht (Zyanosen, Exantheme etc.) unauffällig. Es besteht kein inspiratorischer Stridor, auch die Auskultation der Lunge bleibt unauffällig. Peripher ist ein tachykarder, regelmäßiger Puls zu tasten. Die Rekap-Zeit beträgt 2 Sekunden. Im Team wird unmittelbar ein kritischer Zustand der Patientin kommuniziert

Auf Ansprache reagiert die Patientin adäquat und beantwortet einfache Fragen prompt mit Nicken bzw. Kopfschütteln. Eine präzise Anamnese ist jedoch unmöglich. Sie macht einen spürbar ängstlichen Eindruck, Panik herrscht bei ihr jedoch keine. Während der Etablierung eines i.v.-Zugangs am linken Unterarm werden erste Vitalparameter aufgenommen. Bereits parallel werden Prednisolon, Fenistil und Ranitidin aufgezogen.

6-Kanal EKG:Sinustachykardie (110/min), sonst unauffällig
Blutdruck230/120 mmHg
SpO297%
Atemfrequenz20/min
BZ139 mg/dl bzw. 7,7 mmol/l
Temperatur36,7 °C

Es folgt die zügige Gabe der bereits vorbereiteten Medikamente. Erst anschließend fällt bei der weiteren Untersuchung linksseitig sowohl eine deutliche Schwellung im Bereich der Parotis als auch ein Hyposphagma (“rotes Auge”) auf. Bei genauem Betrachten wird zudem eine tiefrote Färbung der Zunge entdeckt. Juckreiz und vorbestehende Allergien werden verneint. Es besteht kein fokal neurologisches Defizit, beidseits finden sich mäßig ausgeprägte Knöchelödeme.

Die anwesende Betreuerin berichtet, dass die Patientin normalerweise uneingeschränkt ihrem Alltag nachgehe. Über das hausinterne Notrufsystem habe sie vor einigen Minuten Alarm ausgelöst, das Sprechen sei zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr möglich gewesen. In der Einrichtung wird die tägliche Medikamenten-Einnahme der Bewohner sichergestellt, der Medikationsplan beinhaltet folgendes:

Atorvastatin20mg0-0-1
Pantoprazol40mg1-0-0
Phenprocoumon3mg0-0-1 (nach INR)
Ramipril5mg1-0-0
Amlodipin10mg1-0-0
Hydrochlorthiazid25mg1-0-0

Zusatzinfo 1 (12.03.21):
Es erfolgt unmittelbar der Versuch einer Blutdrucksenkung mittels Urapidil und Metoprolol i.v.. Eine wesentliche RR-Besserung bleibt hierunter jedoch aus. Eine erneute Betrachtung der Zunge offenbart eine weitere Größenzunahme, wobei nach wie vor eine tiefrote Färbung auffällt. Die Dyspnoe der Patientin macht einen leicht zunehmenden Eindruck.

Zusatzinfo 2 (14.03.21):
Aufgrund zunehmender Zungenschwellung und Dyspnoe entschied sich das Team zwischenzeitlich für einen zügigen Transport in den nahegelegenen Schockraum und eine O2-Gabe (6l/min) über Reservoir-Maske. Die Klinik wurde über die Notwendigkeit einer fieberoptischen Intubation informiert, der sich bereits auf dem Heimweg befindliche HNO-Oberarzt konnte daher sofort informiert werden und kehrte um.

Bei Ankunft im Schockraum ist die Patientin noch immer hyperton, tachykard und zeigt (unter 6l/min) normwertige SpO2-Werte. Bei bestehender Dyspnoe mit inspiratorischem Stridor ist die Patientin inzwischen jedoch sehr ängstlich.
Parallel zu einer schnellen Übergabe und Umlagerung erfolgt das Einbringen von Lokalanästhesie-Spray in beide Nasenlöcher. Bei zügigem fieberoptischen Vorspiegeln in Richtung Stimmlippen zeigt sich ein massiv eingeengtes Larynxlumen bei ausgeprägtem, linksseitig betontem, Schleimhauthämatom. Die Stimmlippen sind blutig unterlaufen, eine endoskopische Passage bzw. endotracheale Intubation ist nicht mehr möglich.


Wie wärst du in diesem Fall vorgegangen?
Wie würde dein weiteres Vorgehen aussehen?
Was könnte die Patientin haben?


Wie immer freuen wir uns sehr über eure Beiträge in der Telegram-Gruppe oder hier in den Kommentaren!
Oder habt ihr Feedback / Verbesserungsvorschläge? Ebenfalls immer her damit! 🙂

Autor: Navid Azad

An der Notfallmedizin reizen mich ihre Vielseitigkeit, das pragmatische Arbeiten mit menschlicher Physiologie, die mentalen Aspekte des Arbeiten unter Drucks und die vielfältigen gesellschaftlichen Einblicke.

3 Gedanken zu „NERDfall Nr.10: Wir haben ein A-Problem!“

  1. Die alte Dame nimmt Phenprocomon in eher hoher Dosierung für so eine alte Dame. Wahrscheinlich handelt es sich tatsächlich um eine vielleicht auch spontane Einblutung bei einer Überdosierung des Vit K-Antagonisten. Blutentnahme ist bestimmt gelaufen, dann schnell FFP oder Faktoren geben und kühlen. Als Gegendruck würde ich zumindest eine CPAP-Beatmung sozusagen als Druck auf die Blutung versuchen bevor ich in unklarer Gerinnungs-Situation eine Koniotomie als letzte Möglichkeit durchführe….
    GLG KS

  2. M.E. ist als DD auch ein Trauma mit Einblutung in die Parotisregion die Zunge und das Auge in Erwägung zu ziehen aufgrund der Medikation und der einseitigen Symptomatik. Ein zügiger Transport zur bildgebenden Diagnostik unter intensivüberwachung und Vorbereitung der Atemwegssicherung ist sinnvoll, Ketamin bei diesem RR Wert eher kontraindiziert.
    DD Jochbeinfraktur?
    Anaphylaxie eher unwahrscheinlich.

  3. Auf jeden Fall die Klinik vorinformieren und im Sinne von höchst konzentriertem beobachtendem Abwarten unter kompletter Verkabelung losfahren. Unterwegs die Patientin fragen, wohin die subjektive Tendenz geht. Stoppt die Schwellung, eher besser, eher schlechter? Sollte die Patientin “eher schlechter” beschreiben, dürfte die Indikation zur Atemwegssicherung gegeben sein, also die Bereitschaft zur (Videolaryngoskopie evtl. nasale Wach-Intubation) / Koniotomie herstellen und die Klinik nochmals informieren (flexibles Videolaryngoskop, das haben wir auf dem NEF nicht, ebenso haben wir keine C1-Esterase-Inhibitoren oder Bradykininrezeptorantagonisten an Bord).
    Atemwegssicherung präklinisch auf jeden Fall VOR einem potentiellem Sättigungsabfall. Wegen zu erwartendem schwierigem Atemweg beim Quincke-Ödem/Angioödem die spontanatmende Patientin mit O2-Maske/Reservoir aufsättigen, um ein bißchen Zeit zu gewinnen.
    Eine Narkose würde ich mit Ketanest einleiten, da eine noch vorhandene Spontanatmung bleibt.
    Als ersten Intubationsversuch vor einer Koniotomie Versuch würde ich unser Videolaryngoskop mit S-Guide mit O2-Konnektor/Bougie hernehmen.

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