NERDfall Nr.10 – Teil 2: Massive Zungeneinblutung bei oraler Antikoagulation

Auflösung und weiterer Verlauf:

Aufgrund der dramatischen Situation wird ein Tracheotmie-Schnellset vorbereitet – die Patientin erhält zwischenzeitlich eine NIV-Beatmung via Maske (FiO2 1,0), hierunter kann eine SpO2 von 94% gehalten werden. Um die Spontanatmung der Patientin zu erhalten, erfolgt das Prozedere in Lokalanästhesie. Ein erster Versuch schlägt jedoch fehl. Zeitgleich trifft der diensthabende HNO-Oberarzt ein, dieser hatte sich tatsächlich schon auf dem Heimweg befunden und kehrte unmittelbar um. Durch ihn erfolgt die sofortige Durchführung einer scharfen Tracheotomie, wobei eine extreme Blutungsneigung sowie eine Tracheallumen-Einengung bei Schleimhauthämatom auffallen. Unmittelbar nach Einlage eines 6er Tubus erfolgt die Narkoseeinleitung. Die SpO2 von mittlerweile 88% beginnt nach Beatmungsbeginn sofort zu steigen.

Laborchemisch fallen unter anderem ein INR von 21,5 sowie eine aPTT von 111s auf. Im weiteren Verlauf erfolgt der Wechsel auf eine Trachealkanüle. Unter lokaler Pflege geht die Schwellung ohne Nekrosen zurück, ab Tag 8 befindet sich die Zunge wieder in der Mundhöhle. Nach 24 Tagen kann die Patientin erfolgreich dekanüliert und im Verlauf in die Reha und zuletzt ohne neurologisches Defizit in ihr betreutes Wohnen entlassen werden.

Bei Recherche zur Vorgeschichte der Patientin ergab sich ein ca. ein Jahr zurückliegender chirurgischer Aortenklappen-Ersatz. Damals waren bei den Voruntersuchungen bereits leicht erhöhte Leberwerte im Sinne einer Leberzirrhose Child A aufgefallen. Aus unklaren Gründen setzte der Hausarzt entgegen kardiochirurgischer Empfehlung die Cumarinisierung nicht nach drei Monaten auf ASS um.
Der hier geschilderte Vorfall dürfte somit das Resultat einer unbemerkten Zunahme der Leberdysfunktion mit konsekutiv gestörter Phenprocoumon-Metabolisierung (strikt hepatisch über CYP450) bei Leberzirrhose mit ohnehin kompromittierter Gerinnung sein. Zu dieser desolaten Gerinnungssituation gesellte sich zusätzlich eine hypertensive Entgleisung mit Endorganmanifestation (Schleimhauteinblutung) – sprich ein hypertensiver Notfall bei relativer Phenprocoumon-Überdosierung.

Die Bildrechte liegen bei den veröffentlichenden Kolleginnen und  Kollegen. Jegliche Nutzung oder Weiterverbreitung ist nicht gestattet, außer nach expliziter Rücksprache mit den Kolleginnen und Kollegen.

Ein riesengroßer Dank für das Bereitstellen des Materials gilt den behandelnden Ärzten / Ärztinnen, Autoren / Autorinnen und selbstverständlich der Patientin.


Kleiner Exkurs zu Vitamin-K:

  • Das fettlösliche Vitamin K wird u.a. für die Synthese der Gerinnungsfaktoren I, II, VII, IX benötigt (1972)
  • Vitamin-K-Antagonisten (Cumarine) reduzieren die „Aufbereitung“ von verbrauchtem Vitamin K in seine wiedervertbare, „frische“ Form. So steht weniger „frisches“ Vitamin K für Biosynthesen bereit.
  • Vitamin K-Mangel geht wie eine Cumarin-Therapie mit Antikoagulation einher
  • Mit Cumarinen antikoagulierte Patienten sollten nicht zu viel Zwiebeln oder andere Vitamin K reiche Lebensmittel zu sich nehmen

Risikofaktoren für Vitamin K-Mangel und damit einhergehende Blutungsneigung:
– Säuglingsalter (Daher Vitamin K Prophylaxe bei Geburt, U2 und U3)
– Morbus Crohn, Colitis ulcerosa
– Gallensäuremangel (Z.n. Cholezystektomie, Steinleiden, Medikation -> Fettresorption!)
– Antibiotika-Einnahme (Darmflora essenziell für Aufnahme & Synthese)
– Mangelernährung (Anorexie / Sucht- / Versorgungsproblematik)
– Und andere

Klinisches Detail:
Auch die antithrombotisch wirksamen Proteine C & S werden Vitamin K abhängig synthetisiert. Sie haben jedoch eine kürzere Plasma-HWZ als die Gerinnungsfaktoren 1972. Bei Beginn einer Cumarin-Therapie kann es daher initial zu prothrombotischen Effekten kommen. Somit ist zu Beginn der Therapie mit einem Vitamin-K-Antagonisten eine überlappende Gabe von z.B. einem niedermolekularen Heparin für einige Tage sinnvoll bzw. notwendig.


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Autor: Navid Azad

An der Notfallmedizin reizen mich ihre Vielseitigkeit, das pragmatische Arbeiten mit menschlicher Physiologie, die mentalen Aspekte des Arbeiten unter Drucks und die vielfältigen gesellschaftlichen Einblicke.

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