NERDfall Nr. 11 – Teil 1: Der „häusliche Sturz“ im urigen Bauernhaus

Wir wollen gar nicht lange schnacken, hier ist er, der nächste NERDfall – viel Spaß!

An einem knackig-kalten aber freundlichen Dienstagmorgen, schallt die Sirene eines Rettungswagens durch das beschauliche Hinterlingen. Die Besatzung macht ihr Ziel in einer engen Kurve der Hauptstraße aus. Nach kurzer Überlegung wird das Fahrzeug 20m weiter, in einer Hofeinfahrt abgestellt.
Eine Dame des Pflegedienstes öffnet die Tür und führt die beiden Rettungsdienstler, über eine unheimlich steile und sehr schmale Treppe, hinauf in den 1. Stock…

Die Heizungen scheinen auf Hochtouren zu laufen. Nebenbei erzählt die Pflegerin, dass sie vorhin das allererste Mal Gebrauch vom Ersatzschlüssel des Nachbarn machen musste. Sonst öffne ihr wohl die rüstige Rentnerin selbst die Tür, sodass sie sich immer unbehelligt um die Tabletteneinnahme der Eheleute und die Körperpflege des schwer dementen Ehemanns kümmern könne.
Sie fand die Rentnerin schlussendlich in ihrem eingenässten Nachthemd, kaum ansprechbar, auf dem Boden des Schlafzimmers auf.
Gemeinsam mit dem benachbarten, jungen Herrn habe sie schnell entschieden, den Rettungsdienst zu rufen und konnte die Dame mit seiner Hilfe ins nahestehende Bett hieven.

Beim Betreten des Zimmers fallen RA und RS ein deutlicher Uringeruch auf; der unverkennbare Geruch eines Harnwegsinfekt ist es jedoch nicht. Die korpulente Patientin (ca. 85kg bei 1,6m) wirkt ein wenig fahl; der Puls ist gut und regelmäßig tastbar, jedoch etwas bradykard. Der Rettungssanitäter beginnt mit dem Basismonitoring:
RR 95/55mmHg, SpO2 95%, Puls & HF 50 bei SR. Sonst zeigen sich ein unauffälliger Mundraum und Schleimhäute, eine Eupnoe bei diskreten, basalen Rasselgeräuschen bds., eine unauffällige, periphere Rekapilierungs und der initiale GCS-Wert wird bei 10 (A2V3M5) liegend kommuniziert.
Dem erfahrenen Rettungsassistenten ist nicht wohl bei der Sache – das Team entscheidet sich zur NEF-Nachalarmierung. Die Patientin bäumt sich nun auf und möchte offensichtlich das Bett verlassen. Dabei lässt sie erneut Urin unter sich und würgt einige Male; zum Erbrechen kommt es nicht.
Die weitere neurologische Untersuchung gestaltet sich, aufgrund der mangelnden Kooperation, schwierig. Dennoch bewegt die Patientin ihre Extremitäten seitengleich, die Gesichtsmimik wirkt symmetrisch, die Pupillen sind isokor und beidseits lichtreagibel.  Der Bodycheck erbringt leichte, beidseitige Unterschenkelödeme und eine kleine Prellmarke am Hinterkopf. Es wird ein 18G Zugang in den Handrücken gelegt; die Infusion langsam laufen gelassen.
Eine Anamnese ist nicht möglich. Die Pflegerin berichtet, die Eheleute gestern um ca. 17 Uhr, nach ihrem zweiten täglichen Besuch, bei vollem Wohlbefinden verlassen zu haben. „Schlimme“ Vorerkrankungen seien ihr nicht bekannt, sie werde aber gleich in den Pflegeunterlagen im Erdgeschoss noch einmal nachschauen und in diesem Zug auch den Medikamentenplan holen. Sie schiebt noch nach, dass die Patientin letztes Jahr aufgrund eines Oberarmbruches im Krankenhaus gewesen sei. Angehörige gebe es außer eines Sohnes in Frankreich keine.

Das NEF, welches sich gerade im Nachbarort frei gemeldet hatte, trifft ein. Nach einer kurzen Übergabe macht sich die junge Notärztin kurz selbst ein Bild von der Patientin. Es wird entschieden, die Dame ins Fahrzeug zu bringen, dort ein 12-Kanal EKG zu schreiben und sie dann schnellstmöglich in die Klinik zu transportieren.

Der Rettungssanitäter fragt in die Runde:

Wie machen wir’s mit der Treppe? Wie kommen wir am besten zum Fahrzeug?

… und der NEF-Fahrer hält das Handy nach oben und fragt:

Wo und mit was soll ich anmelden?


Ihr habt die Kollegen gehört – Was meint ihr?

Was gilt es eurer Meinung nach ansonsten zu beachten?


Zusatzinfo 16.04.:
BZ 450mg/dl,
CO-Melder bleiben stumm,
Körpertemperatur scheint unauffällig (uns wurde diesbzgl. nichts Konkretes übermittelt)
Das Spineboard wird vorbereitet und entschieden, die Patientin in der Uniklinik mit V.a. Stroke DD NPH (Normal Pressure Hydrocephalus), SHT nach Sturz & möglichem Liegetrauma anzumelden.

Zusatzinfo 17.04.:
• Die Rettung per Spineboard stellt zwar eindeutig eine Herausforderung dar, gelingt aber ohne nennenswerte Vorkommnisse.
Im RTW keine weitere Immobilisation; 30° OK-Hochlagerung; 3l O2 über Nasenbrille, darunter SpO2 98%; Patientinnenzustand unverändert.
• Die Uniklinik bittet freundlich darum, ein anderes Haus anzufahren. Bei ihnen wäre die Hölle los und sie hätten noch zwei Polytraumen im Anflug.
• Die Pflegerin hat inzwischen den Medikamentenplan organisiert:
(Ein Diabetes hätte laut ihr bisher nicht im Raum gestanden)

Zusatzinfo 18.04.:
• EKG: Sinusbradykardie, sonst o.p.B.
• Es wird entschieden, Regelversorger II anzufahren.
• Die Pflegerin fragt aufgewühlt, was denn nun eigentlich mit dem Ehemann passiere. Der Herr sitzt apathisch, unverständlich murmelnd, eingenässt und eingestuhlt vor einem Butterbrot und kaltem Tee am Küchentisch. 
“Der Zustand ist leider normal aber alleine bleiben kann er auf keinen Fall. Ich muss jetzt auch wirklich los – meine anderen Patienten müssen endlich ihre Medikamente bekommen.”

Teilt wie immer gerne auch andere relevante Gedanken, die euch zum Fall in den Kopf kommen.


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10 Kommentare zu „NERDfall Nr. 11 – Teil 1: Der „häusliche Sturz“ im urigen Bauernhaus“

  1. Da hätte sich die Nachforderung eines zweiten RTW/KTW doppelt gelohnt: Einerseits hätte man gleich Tragehilfe vor Ort gehabt, andererseits kann man dann den Ehemann mitnehmen. Bis zur Klärung der weiteren Pflege (Kurzzeitpflege?) muss der arme Mann erstmal ins Krankenhaus, alleine lassen ist keine Option. Am Besten ins gleiche KH wie seine Frau, sofern dies von den Rettungsmittelkapazitäten möglich ist.

  2. Moin,

    eine Ketoazidose als Komplikation des DM1 mit Erstmanifestation bei einer „rüstigen Rentnerin“ halte ich für wahnsinnig unwahrscheinlich. Vermutlich liegt hier ein symptomatische Hyperglykämie aufgrund eines entwickelten DM2 vor, der durch die Einnahme von HCT getriggert wurde.

    Der schlechte Kreislauf und die hohen Blutzuckerwerte könnten eventuell auch durch eine leicht zu hohe Bisoprolol-Dosis bedingt sein, das ist aber weit hergeholt.

  3. Mit der Info von heute wäre ein ketoazidotisches bzw. hyperosmolares Koma auch noch in die DD-Liste gerutscht! Azetongeruch? Kußmaulsche Atmung? Anamnese über Vorerkrankungen vor allem Diabetes und die (mögliche) Insulin-Therapie.
    Der Rest lässt sich leider nur laborchemisch bestimmen.

    1. Guter Einwand bzw. Einwände!
      Einen auffälligen Geruch beim Herantreten an die Patientin hätten wir euch aber tatsächlich verraten 🙂

  4. Prellmarke am Hinterkopf könnte v.a. bei bestehender Antikoagulation auf eine traumatisch bedingte Blutung hinweisen. Hirndruckzeichen hat sie zwar keine, könnte aber noch kommen.
    DD wäre eine Epilepsie. Auslöser sind vielfälltig, evtl Elektrolytentgleisung –> Hyponatriämie kann Verwirrungszustände verursachen etc…
    Insgesamt viele ursächliche DDs, die mir da im Kopf aufpoppen…
    Würde die Pat. mit dem Bergetuch die Treppe runter tragen lasse. Und anschließend auf die Rettungstrage legen. Anschließend EKG, Temperatur, BZ-Messung und je nachdem die Entscheidung zum Transportziel angehen.

      1. Die Kombination von Antihypertensiva kann allerdings eine Hyponatriämie verursachen.
        Würde trotzdem noch den BZ messen. Die ICB rutscht für mich ohne Antikoagulanz und entsprechende Neurologie relativ weit nach unten, für einen Schlaganfall ist mir das ganze auch bisschen zu untypisch, wobei nicht ganz auszuschließen. Bei der Epilepsie das selbe, ds keine typische Nachschlafphase.
        Würde mich je nach BZ bei Klinik nr 2 anmelden und am ehesten auf Hyponatriämie tippen.

      2. Ah, der BZ steht ja schon, hab ich glatt überlesen. In dem Fall ist die Ketoazidose hoch im Kurs. Ändert an meinem Anfahrtsziel allerdings nichts. Volumensubstitution mit Vollelektrolytlösung und ab ins KH Nr 2. mit v.a. Ketoazidose.

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