NERDfall Nr. 32 – Teil 2: Paresen, Plegie und Hyperkaliämie

Was für ein spannender, aber diffuser Fall – bis zum Schluss ist es teilweise nicht möglich, manche Symptome oder Parameter schlüssig zu erklären. Ich hab mich auf jeden Fall über die Diskussion in der Gruppe gefreut, eine Menge für den Alltag und auch einiges für die nächsten innerklinischen NERDfälle gelernt.

Teil 1 verpasst? dann hier lang

Fallauflösung

Kurz nach dem Umlagern im MRT gibt der Patient an, seine Beine wieder besser bewegen zu können. Sehr rasch erholt sich die Parese komplett und die Radiologin spricht sich erstmal gegen eine weitere Untersuchung aus. 

Insgesamt bekommt der Patient in der ZNA eine medikamentöse Therapie mit Vitamin B1, einem Kationenaustauscher, Metamizol und Lorazepam. Ebenso wird eine antibiotische Behandlung mit Ceftriaxon begonnen. 

Der Blasenkatheter fördert mittlerweile gut und es kommt zu einer starken Diurese, weswegen der Katheter erstmal abgeklemmt wird. Der Patient wird auf die internistische Intensivstation aufgenommen, dort bessern sich die Blutgase deutlich. Auf Grund von progredienten, starken Blutungen aus dem Blasenkatheter kommt es zu einem weiteren Abfall des Hämoglobins und daraufhin zu Transfusionen mit Erythrozytenkonzentraten und der Gabe von Erythropoetin.

Am Ende stellt sich heraus, dass der Patient an einem Adenokarzinom der Prostata leidet.

Gliederung:

1. Lähmungen in der Notfallmedizin
2. short Refresher: Hyperkaliämie + Therapie
3. Wie kommt es zur Lähmung?
4. Gedanken zum Fall
5. Take Home Message
6. Quellen

1. Lähmungen in der Notfallmedizin 

Definition und Wording:

-> Parese = herabgesetzte Muskelkraft, demnach Muskelaktivität noch vorhanden
-> Plegie = komplett aufgehobene Muskelaktivität 

Schematische Darstellung von Lähmungen

Unterscheidung des Läsionsortes:

Zentrale Schädigung = Störung des 1. Motoneurons

Symptome:

  • Spastik = Erhöhung des Muskeltonus  Entsteht erst im Verlauf, initial meist schlaffe Parese (z.B. bei Schlaganfall)
  • Meist kontralaterale Symptome
  • Erhöhtes Eigenreflexniveau
  • Fremdreflexe herabgesetzt
  • Verbreitung der Reflexzonen
  • Pyramidenbahnzeichen vorhanden (z.B. Babinski) 

Ursachen:

  • Läsionen des Rückenmarks
  • Demyelinisierung der Zentralen Nervenbahnen z.B. bei Multiple Sklerose
  • Schädelhirntraumata
  • Schlaganfall
Periphere Schädigung = Störung des 2. Motoneurons

Symptome:

  • Schlaffe Parese
  • meist ipsilateral
  • Abgeschwächte/nicht auslösbare Eigen- und Fremdreflexe
  • Faszikulationen
  • Im weiteren Verlauf: Atrophie der Muskulatur 

Ursachen:

  • Periphere Nervenschädigungen durch z.B. Trauma
  • Polyneuropathien

Zum Fall: 
Bei unserem Patienten handelt es sich nicht um eine zentrale Paraparese. Am ehesten ist die Symptomatik auf die Hyperkaliämie zurück zu führen. Neben gefährlichen Herzrhythmusstörungen kann auch die Muskelschwäche bzw. schlaffe Parese ein Symptom dieser Elektrolytstörung sein.

In der Diskussion wurden auch zeitweise Polyneuropathien (PNP), v.a. im Bezug auf einen langjährigen Alkoholmissbrauch erwähnt. Hier zeigen sich die Schädigungen der Nerven v.a. über einen längeren Zeitraum und nicht akut. Für die bessere Darstellung gibt es hier nochmal eine Grafik für die Verteilungsmuster der Polyneuropathie:

wir gehen hier nur kurz auf die sehr vielfältige Erkrankung bzw. Symptome der Polyneuropathie ein. Wichtig ist, den Unterschied zu den akuten Schädigungen zu erkennen. Die Einteilung der PNP erfolgt unterschiedlich, wir konzentrieren uns erstmal auf die Klinik.

Polyneuropathie – mögliche klinische Verteilungsmuster

Symptome:

  • meist langsamer, progredienter Verlauf initial sensible Nervenfasern betroffen Taubheitsgefühle, Missempfindngen, fehlende Wahrnehmung von Temperaturunterschieden
  • Im Verlauf: motorische Störungen möglich, ebenso wie Störungen der autonomen Nervenfasern, wie Blasensphinkter, Verdauungsproblematik, Schweißproduktion etc.
  • Merke: bei einem Guillain-Barré-Syndrom kann es innerhalb von wenigen Tagen bis Wochen zu einem akuten Verlauf kommen

2. Short Refresher: Hyperkaliämie

Navid hat im NERDfall Nr. 14 bereits ausführlich über die Hyperkaliämie, Herzrhythmusstörungen und vor allem auch über die Pathophysiologie am Herzmuskel geschrieben. 

Hier nochmal ein paar Hardfacts zur Hyperkaliämie:

  • 90% Ausscheidung von Kalium renal
  • 98% des Kaliums im Körper befindet sich in der Zelle 
  • Kaliumverteilung: Azidose geht immer einher mit Hyperkaliämie! (Alkalose immer mt Hypokaliämie) K+ Ionen stehen im Austausch mit H+ Ionen 
  • „Gegenstück“ zu K+ Ionen in der Zelle sind Na+ Ionen im extrazellulär Raum
  • Insulin: bei Ausschüttung bzw. Gabe wird Kalium mit Glucose nach intrazellulär geshiftet
  • Zunahme Osmolalität im Extrazellulärraum Ausstrom von Kalium aus der Zelle Hyperkaliämie 

NERD Wissen: Periodische Lähmung

  • Lähmung auf Grund einer Ionenkanalerkrankung inkl. Veränderungen des Kaliumspiegels
  • seltener autosomal-dominanter Gendefekt
  • Symptome durch Hypo- oder Hyperkaliämie bedingt 
Hyperkaliämische periodische Paralysedefekte Na+ Ionen fehlende ausreichende Inaktivierung bei Depolarisation Aufbau des Membranpotentials erschwert
Hypokaliämische Paralyse (hypoPP)hier auch Veränderung des Membranpotentials erhöhter Gradient zw. intra- und extrazellulär Raum Muskelzelle nicht erregbar

Auslösbar durch: Kohlenhydrate und Insulin, Ruhe nach körperlicher Arbeit
Übersicht der Symptome bei periodischer Lähmung

Therapie:

Hier soll es nur nochmal eine kurze Übersicht zu Therapiemöglichkeiten geben. Eine genaue Aufschlüsselung der Medikamente, v.a. auch im Bezug auf Herzrhythmusstörungen findet ihr die NERDfacts zu Hyperkaliämie hier und die Killer-B’s Im EKG hier

Initiale Therapie  Membranstabilisierung und Shiften des Kaliums nach intrazellulär

  • Stabilisierung der Membran durch Calcium 
  • Gabe von Insulin zusammen mit Glucose
  • Gabe von ß2 Sympathomimetika (Salbutamol) Aktivierung der Na+/K+-ATPase
  • Gabe von Natriumbicarbonat bei schwerer Azidose 
  • in den Reanimations-Guidelines aufgeführt, aber die Gabe von Kationenaustauschern ist umstritten. Demnach gibt es bei #dasfoam den passenden Artikel zur Thematik (hier das Original von pulmCrit)

im weiteren Verlauf: Elimination des Kaliums und Ursachenbekämpfung! Ultima Ratio: Dialyse

3. Wie kommt es zur Lähmung? 

Letzten Endes ist es wohl ein bisschen Henne/Ei Prinzip. Grundsätzlich ist aber folgendes denkbar – auch wenn es nicht bestätigt ist und die Datenlage gering.

Fakt ist erstmal, dass es durch das Prostatakarzinom bzw. durch die Blasentamponade durch Koagel zu einer Hydronephrose kommt. Die Laborwerte bestätigen die Akute Niereninsuffizienz – es kommt zur Hyperkaliämie.

Gleichzeitig kann durch die Akute Niereninsuffizienz der Säure-Basen-Haushalt nicht wie gewohnt aufrecht erhalten werden. Grundsätzlich kann auch Zelluntergang durch den Tumor denkbar sein.

Die Hyperkaliämie wird vermutlich hier die Ursache allen Übels sein. Deswegen geht es jetzt einmal zurück zu den Basics der Medizin

Aktionspotential – Kausalkette der Pathophysiologie: (extrazelluläre) Hyperkaliämie Anstieg der K+ Konz. auch in der Zelle geringerer Gradient zwischen dem intra- und extrazellulär Raum Ruhepotential gelangt nicht mehr zu Ausgangswert (= Depolarisation) niedrigere Schwelle um Aktionspotential auszulösen initial erhöhte Muskelaktivität und Hyperreflexie erschwerte Repolarisation der Na+ Kanäle durch erhöhtes Ruhemembranpotential Paralyse/Plegie

bei der Kardioplegie in der Herzchirugie wird sich dies zu nutze gemacht, um durch hohe Konzentrationen an Kalium einen künstlichen Herzstillstand herbeizuführen

4. Gedanken zum Fall

Einmal kurz zusammengefasst hatten wir hier ein Sammelsurium an verschiedenen Erkrankungen. Jedoch wissen wir alle, dass Notfallmedizin nicht immer nur A oder B ist, sondern häufig eintretende Wechselwirkungen oder Koinzidenzen.

Das war nun unser erster Fall, der sich komplett innerklinisch abspielte. Auch wenn sich Notfälle ähneln, werden sie in unterschiedlichen Situationen anders abgehandelt. Für den Rettungsdienst ist heruntergebrochen der Weg auch ein Stückweit das Ziel. Häufig wir sich hier um Symptombekämpfung gekümmert, teilweise bleibt uns ‚draußen‘ nicht die Zeit oder die Möglichkeit zur Ursachenbekämpfung – oftmals fehlt uns die Diagnostik. 
In der Präklnik sind die Rollen klar verteilt, viele sprechen dieselbe Sprache, die Abläufe sind allen bekannt.

Innerklinisch kann es durchaus anders laufen, vor allem wenn viele verschiedene Professionen ihr Spezialgebiet in Patient:innen erkennen. Hier ist es wichtig zur priorisieren, zu deligieren, den Überblick zu behalten und komplexe Situationen auch zu trainieren.

Das Lehrreiche an diesem Fall war vermutlich vor allem die nötige Interdisziplinarität der verschiedenen Fachrichtung und die Koordination dieser. Auch wenn hier initial der Querschnitt bedrohlich, wie ein Damoklesschwert über der Behandlung schwebte, war die Ursache für das Problem anscheinend in der urologischen Fachabteilung einzuordnen. Hinzu kam die drohende internistische Auswirkung der Hyperkaliämie – und alles versteckt unter der Thematik „nur ein Alkoholentzug“ 

Hier kann wiederum gesehen werden, dass vor allem Notaufnahmen klare Kommunikationswege und eigene Strukturen brauchen, damit Interdisziplinarität – vor allem für dynamischen Patient:innen, gewährleistet werden kann. 

5. Take Home Message

6. Zusätzliche Infos & Quellen

Gerade zur Hyperkaliämie gibt es viele verschiedene Quellen und Herangehensweisen. Hier einmal eine Auswahl!

Schon häufig hier verlinkt und deswegen auch in diesem Beitrag nicht wegzudenken: Akutmanagement der Hyperkaliämie von den pin-up-docs!

GRC Leitlinien zur Reanimation 2021

Die Hyperkaliämie von FOAMINA

Falls nochmal jemand nachlesen möchte, warum NaCl 0,9% nicht zur Flüssigkeitstherapie verwendet werden soll – dann nochmal ein Artikel von #dasFOAM

Zidek W. in Baenkler H, Bals R, Goldschmidt H et al., Kurzlehrbuch Innere Medizin. 4. Auflage. Thieme, 2021

Lang F, Störungen des Kaliumhaushaltes. In Silbernagl S, Lang F, Taschenatlas Pathophysiologie. 6. Auflage. Thieme, 2019

Herold G, Innere Medizin 2022, Köln


Von euch erlebte Fälle, sammeln wir weiterhin hier: präklinisch und hier: innerklinisch. Wir sind gespannt!

Es besteht kein Interessenskonflikt.

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