NERDfall Nr. 31 – Teil 2: Racial Biases in der Notfallmedizin

Herzlich Willkommen zu einer Fallauflösung der etwas anderen Art! Diesmal lassen wir viele Inhalte des Geschehens bei Seite, um euch einmal fokussiert hinsichtlich Racial Biases in der Notfallmedizin anzustupsen. Sprecht eure Leute darauf an und verbreitet gerne die untenstehende Infografik. Am Ende gibts noch einen ganzen Haufen Literatur. Viel Freude mit dem Material!

Gliederung:

  1. Auflösung
  2. Optimierungsmöglichkeiten
  3. Racial Biases in der (Notfall-)Medizin
    Infografik zum Aushängen
  4. Quellen, Weiterführendes und Buchtipps

    Zu Teil 1 geht’s hier.

1. Auflösung:

Nach dem zweiten Schock wird Reanimationtsbereitschaft hergestellt und die Patientin erhält 15l/min O2 per Reservorimaske sowie 300mg Amiodaron als iv.-Bolus. Sie ist wach und motorisch unruhig.
Im Hintergrund wird weiter Atropin aufgezogen, welches anschließend titriert wird. Trotzdem lässt sich die Herzfrequenz kaum über 70/min anheben. Der Blutdruck beträgt 155/90 mmHg. Man diskutiert im Team über einen Adrenalin-Perfusor, entscheidet sich schlussendlich aus Sorge vor weiterer arrhythmogener Wirkung aber dagegen. Bei anhaltender ventrikulärer Extrasystolie kommt es, bis zum Erreichen des Drehleiter-Korbs am offenen Fenster im Nachbarzimmer, noch zu drei weiteren Episoden von Kammerflimmern. Alle können mittels einmaliger Schockabgabe terminiert werden. Die Patientin erhält nun weitere 150mg Amiodaron. Das Umlagern auf den Drehleiterkorb gelingt komplikationslos, die Notärztin begleitet die weiterhin wache Patientin nach unten. Dort angekommen, tritt erneut Kammerflimmern auf, welches mit zwei Schocks in die bekannte Sinusbradykardie konvertiert werden kann. Von der Drehleiter erfolgt ein zügiger Transfer in den RTW. Hier wird die Patientin noch einmal geschockt, wonach ohne weitere Maßnahmen mit dem Transport begonnen wird. Die Patientin erhält auf dem Weg immer wieder Atropin bis zu einer Gesamtmenge von 2,5mg, auf eine Analgosedierung wird verzichtet. Die Patientin wird mit Bllutdruckwerten um ~200mmHg systolisch im Herzkatheterlabor übergeben. Über den weiteren Verlauf oder eine exakte Diagnose ist leider nichts bekannt.

(Die EKG-Befunde sind jedoch suspekt für einen rechtsventrikulären Infarkt, am ehesten infolge einer RCA-Okklusion: ST-Hebung in III > II, reziproke ST-Senkung in aVL, ST-Hebung in V1 > V2. Zudem ezidivierende ventrikuläre Arrhythmien und anhaltende Bradykardie → RCA versorgt Sinus- und AV-Knoten)

In NERDfällen geschilderte Abläufe stellen keine Handlungsempfehlungen dar. Es handelt sich um realitätsnahe Fallschilderungen, die einzig zur Diskussion gedacht sind.

2. Optimierungsmöglichkeiten

Der Fokus dieser Fallbesprechung liegt auf Racial Biases bzw. der klinischen Ersteinschätzung bei Menschen mit dunkler Haut / BIPoC. Die hiermit verbundenen Schwierigkeiten und die daher erfolgte initiale Unterschätzung der Dringlichkeit wurde von der den Fall einreichenden Person selbst angesprochen. Selbes gilt für die meisten der nun aufgeführten Punkte, auf die zu Gunsten des Hauptthemas nicht ausführlich eingegangen wird:

  • Früheres Erkennen des kritischen Zustandes bei dunkler Hautfarbe
  • Trotz guter Sauerstoffsättigung (CAVE: falsch hoch bei dunkler Haut?) zunächst keine Sauerstoffgabe bei akuter Instabilität
  • Drehleiter Anforderung vor Klinikanmeldung
  • Analgesie bei wiederholten Defibrillationen!
  • Ggf. Analgosedierung/Narkose?
  • V.a. rechtsventrikulären Infarkt und das damit verbundende Arrhythmie Risiko und andere Implikationen explizit im Team kommunizieren
  • Defi-Patches nicht nur aufkleben, sondern auch initial schon mit dem Gerät konnektieren
  • Die Anhebung der Herzfrequenz hat einen Nutzen bei Bradykardie und Long-QT assoziierten PVT (= Torsades-de-pointes), da sich die QT-Zeit bei höherer Herzfrequenz verkürzt. Im Kontext von VT bei Myokardinfarkten ist sie jedoch kontraproduktiv.
  • Zu VT im Kontext von STEMI bzw. OMI hier ein Ausschnitt aus den 2022 ESC Guidelines for the management of patients with ventricular arrhythmias and the prevention of sudden cardiac death:

Was meint ihr? Hier fehlt bestimmt noch etwas. Diskutiert den Fall weiter!

Eine ausführlichere Community-Diskussion der medizinischen Inhalte des Falls und Optimierungsmöglichkeiten findest du im Chat der Diskussionsgruppe vom 01.-05.Juni 2023.

3. Racial Biases in der (Notfall-)Medizin

Der den helfenden Berufen innewohnende Anspruch von Fürsorge ist ein universaler – er gilt für jeden Menschen. Unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, sozioökonomischen Status oder auch Namen. Doch bei der praktischen Umsetzung gibt es leider Hindernisse: medizinisches Lehrmaterial vernachlässigt dunkle Haut systematisch, medizinische Studien werden häufiger an Menschen mit heller Haut durchgeführt und (nicht nur) westliche Gesellschaften haben darüber hinaus noch immer tief verwurzelte Probleme mit strukturellem Rassismus.

So sind wir letztlich alle von strukturellem Rassismus und einem resultierenden Racial Bias in der Medizin betroffen. Gleichzeitig können wir alle etwas daran ändern!

Häufige Racial Biases in der Notfallmedizin:
  • Kritische (Schleim-)Hautbefunde äußern sich auf dunkler Haut anders und dezenter, als auf heller Haut und werden häufig übersehen. Dabei ist Eyeballing so wichtig für mentales Modell und das Vorgehen in den ersten Minuten.
  • Pulsoxymeter sind bei Hypoxämie und dunkler Haut weniger akkurat.
  • Schmerztoleranz wird bei Menschen mit dunkler Haut überschätzt. Bei ihnen besteht ein höheres Risiko, keine suffiziente Analgesie zu erhalten.
  • Menschen mit dunkler Haut werden häufiger als „schuldig“ wahrgenommen. In Interaktionen wird ihnen gegenüber weniger Positivität/Wärme zum Ausdruck gebracht.
  • Fehlannahme, dass Blut von Menschen mit dunkler Haut leichter gerinnt.
Ausdrucken und an Klotüren kleben!

Was kannst DU tun, um unser aller Racial Bias zu reduzieren?
– Sich selbst über Racial Biases informieren und fortbilden (check)
– Das eigene Umfeld im persönlichen Gespräch auf racial biases aufmerksam machen
– Am eigenen Arbeitsplatz auf racial biases aufmerksam machen (z.B. obenstehende Grafik ausdrucken und aufhängen)
– Auf gesellschaftlicher Ebene auf racial biases aufmerksam machen
– Entsprechende Initativen/AGs ins Leben rufen

„Du Rassist!“, hat wahrscheinlich noch niemanden davon überzeugt, eigenes Wissen, Denkmuster und Verhalten zu überdenken. Ohne Vorwurfshaltung und freundlich-respektvoll erreicht man hier viele Menschen besser mit den eigenen Botschaften. Gerade wenn Menschen von strukturellem Rassismus sehr lange und tief geprägt wurden, kann Selbstreflexion schmerzhaft sein und etwas Zeit brauchen.
Das heißt aber nicht, dass diese Menschen dafür nicht offen wären.

BIPoC = Black, Indigenous (and) People of Color

Quellen:

Sehr viel Englisch dabei – aber es lohnt sich!

Weiterführendes:

Buchtipps von meiner Kommilitonin Käthe:

  • Deutschland Schwarz Weiß
  • Exit Racism
  • So you want to talk about race
  • Alles von Robin DiAngelo (sie ist eine weiße Frau & rollt das Thema von der Perspektive aus auf)
  • Why I don‘t talk to white people about race anymore
  • Between the world and me

Teilt gerne weiterhin eure Gedanken hier in den Kommentaren oder in der Telegram-Gruppe.


Danke Wiebke für die Unterstützung beim Zusammenstellen der Quellen und für das Feedback gemeinsam mit Kristin. Danke Yuel für die zusätzlichen zwei Augen beim Durchgehen der Grafik. Danke Käthe für deine Unterstützung und dafür, dass du immer wieder für das Thema sensibilisierst.

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Autor: Navid Azad

An der Notfallmedizin reizen mich ihre Vielseitigkeit, das pragmatische Arbeiten mit menschlicher Physiologie, die mentalen Aspekte des Arbeiten unter Drucks und die vielfältigen gesellschaftlichen Einblicke.

13 Kommentare zu „NERDfall Nr. 31 – Teil 2: Racial Biases in der Notfallmedizin“

  1. Lieber Navid,
    tausend Dank für den unheimlich lehrreich aufbereiteten Fall!
    Ich habe gemerkt, dass ich den gender bias schon ein bisschen implementiert habe (tatsächlich hatte ich hier ACS und dessen untypische „weibliche“ Präsentation bzw. Unterschätzung direkt auf dem Schirm:) 🙂 ) und ich halte mich auch für durchaus etwas sensibilisierter für Rassismus (etliche von den genannten Büchern habe ich gelesen und mich dabei – selbst white priviledge – an die Nase gefasst und mir der teilweise haarsträubend rassistischen Sozialisierung BRD 80er bewusst geworden… etliche Kinderbücher aus meiner Jugend kann ich entweder nicht mehr anschauen oder muss sie massiv „umdichten“ 😉

    Aber tatsächlich ist die Medizinwelt relativ konservativ (seit 20J bin ich aktiver Teil dieser) und die „offizielle Lehrmeinung“ war, finde ich, teilweise BiPOC und Frauen gegenüber ignorant bis abschätzig mit Unterschätzung von Befundschwere und vorschnell angenommener rein-psychisch angenommener Genese.
    Navid, ich möchte Dir ganz herzlich danken, dass Du dieses Eisen angefasst hast und habe aus Deiner Fallgeschichte ganz viel Alltagspraktisches mitgenommen.
    Man muss einfach bescheid wissen, um medizinisch adäquat zu versorgen !

    1. ich wollte sagen, dass ich, obwohl ich mich für „relativ aufgeklärt“ hielt, auch angesichts der Fallgeschichte gemerkt habe, wie viel racial bias und „weiße Flecke“ ich im medizinischen Bereich noch habe und daher von dieser Mini-Fortbildung sehr profitiert habe!

    2. Lieber Leo,
      vielen lieben Dank für deinen Kommentar und das Teilen deiner Gedanken dazu. So etwas zu lesen freut und motiviert mich mehr, als meine kurze Antwort hier ausdrücken kann.
      Herzliche Grüße
      Navid

  2. Hallo Navid, ich kann oben leider nicht direkt auf Deinen Beitrag vom 6. Juni 2023 um 15:17 Uhr Antworten. Vielen Dank für Deine Antwort. Deine Ausführungen waren sehr spannend zu lesen. Ich bedaure, dass die Langfassung der Technik zum Opfer gefallen ist. Ich möchte auch nicht diesem Kommentarbereich mit einer weiteren Replik sprengen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in Bielefeld begegnet sind oder auf dem nächsten DGINA-Kongress begegnen werden, ist nicht gering. Jedoch werde ich mich (trotz vermutlich genügend vorhandener Gemeinsamkeiten) in diesem Umfeld kaum über Politik und Soziologie unterhalten wollen. Gruß

  3. Kurze fachliche Frage: Das letzte EKG wird mir nicht angezeigt, aber falls dort keine Torsade-de-Pointes-Tachykardie zu sehen ist, verstehe ich nicht, wieso solch ein Wert auf das Anheben der Herzfrequenz gelegt wird. Diese ist doch keine Ursache für die VT und die Patientin war unter der relativ langsamen HF doch trotzdem druckstabil, oder? Mit Atropin (oder dem zum Glück nicht gegebenen Adrenalin) erhöhe ich doch nur den myokardialen Sauerstoff-Verbrauch und die Arrhythmie-Neigung.
    (Falls es aber eine TdP-VT war passt Atropin + Gabe von Magnesium natürlich).

    Zu diesem peter: Strukturellen Rassismus leugnen, Worte verdrehen und dann als „Totschlagargumente“ bezeichnen, Evidenz fordern bei zig angegebenen Quellen, die genau die Standpunkte des Blogpost-Autors belegen, allergisch-defensives Argumentieren mit hohlen Phrasen, dass man doch die politischen Ansichten (nein, „Ideologien“) weglassen soll…
    Ich habe aufgegeben, mit solchen Leuten zu diskutieren. Das ist so erfolgsversprechend, wie mit dem paranoiden Psychotiker darüber zu diskutieren, dass die Aliens nicht hinter ihm her sind…

    Ich hoffe, sein Geschwafel nimmt hier keiner ernst. Das gesellschaftliche Phänomen dahinter ist allerdings ein großes Problem. Irgendwie haben diese Leute große Angst davor, dass diese ganzen Bipoc-LGBQT-Themen ihnen irgendwas wegnehmen werden…

    Ich persönlich freue mich darüber, dass diese Themen jetzt auch breit in der deutschen FOAM-Welt angekommen sind.

    1. Lieber Matthias,

      Danke für dein Einhaken zum EKG und der Pharmakotherapie. Du hast natürlich völlig Recht und ich habe eine entsprechende Grafik aus der zugehörigen ESC Guideline eingefügt.
      Der Spagat zwischen dem fachlich-kardiologisch-notfallmedizinischen und den Racial Biases war vielleicht etwas zu weit angesichts der Komplexität des Falls. Das nehme ich in die nächste Runde mit. Umso mehr danke ich dir für deine kritische Anmerkung.

      Liebe Grüße
      Navid

  4. Wieso nicht einfach nur den Fokus auf die wertungsfreie medizinische Forschung über ethnische Unterschiede legen? Es ist sehr enttäuschend, in einem angeblich evidenzbasierten Fach-Blog so einen polit- und ideologiegetränkten „Haltungsbeitrag“ lesen zu müssen. Dann auch noch dieser unverfrorene Vorwurf, wir alle hätten ein Problem mit strukturellem Rassismus und der gleichzeitigen Implikation, wir seien ein ursächlicher Teil davon. Wie kann man Sensibilität einfordern und gleichzeitig so unsensibel so einen Mist propagieren?
    Hier würde ich mir eine deutliche Klarstellung wünschen. Bis dahin fliegt nerdfallmedizin aus meinen Favoriten und das Guru-Buch aus meinem Empfehlungs-Portfolio.

    1. Ein Versuch einer Antwort an peter4810:

      Bitte nicht anonym kommentieren. Das disqualifiziert enorm.
      Erkennung von psychologischen und medizinischen Bias ist ambulant , prähospital und stationär enorm wichtig. Dazu liefert der Beitrag von Navid Azad sehr wichtige Hinweise mit ergänzender Literatur. Danke dafür.
      Ergänzend noch ein Hinweis zu einem anderen Bias, der ebenso häufig nicht bekannt und unterschätzt wird, der Ableismus: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp2212109
      Warum das Guru-Buch nicht mehr empfohlen wird und was das mit diesem Beitrag zu tun hat, bleibt nicht erklärt und passt nicht zusammen. Aus meiner Sicht eine unqualifizierte Drohung. Das muss nicht sein.
      Aus meiner Sicht ist der NERDfall Nr. 31 ein extrem wichtiger Beitrag für alle engagierten Kolleginnen und Kollegen.
      Insgesamt ärgere ich mich gerade, dass ich so viel Zeit an peter4810 verschwende. Aber die Äusserungen dürfen nicht unwidersprochen bleiben.

    2. Lieber Peter,
      vielen Dank dafür, dass du den Artikel gelesen hast und einen Kommentar schreibst, auf den ich gerne eingehen möchte. Schade, dass der Text für dich persönlich zu politisch bzw. ideologisch ist. Die sieben Sätze unter Punkt 3. habe ich gewählt, um an das Thema heranzuführen, der Rest des Artikels liefert meiner Meinung nach eine Zusammenstellung „wertungsfreie[r] medizinische[r] Forschung über ethnische Unterschiede“.
      Inhaltlich sehe ich in den einleitenden Worten wenig Spielraum für Diskussion, bin aber natürlich trotzdem offen für einen Versuch, mich davon zu überzeugen, dass wir keine Probleme mit strukturellem bzw. institutionellem Rassismus haben.

      Einer Sache würde ich gerne entschieden widersprechen: ich impliziere an keiner Stelle, dass „wir“ ein „ursächlicher“ Teil von strukturellem Rassismus sind. Im Gegenteil. Was ich hier zum Ausdruck bringen möchte, ist, dass unser medizinisches Handeln und Denken in einem System mit rassistischen Schwächen geformt wurde/wird und sich hieraus ein persönlicher Racial Bias beim Arbeiten in uns allen (auch mir) entwickelt.
      Dieser passiven Prägung können wir allerdings aktiv entgegenwirken, wenn wir uns kurz mit betreffenden Themen auseinandersetzen und bspw. diesen Artikel lesen. Check!

      Daneben gibt es selbstverständlich viele andere Menschen mit gemeinsamen Merkmalen, die aufgrund eines oder mehrerer dieser Merkmale strukturell benachteiligt werden. Racial Bias ist natürlich nicht das einzige Problem, das wir in der Medizin bzw. unserer Gesellschaft haben – aber nun mal eben das einzige Thema dieses Artikels.

      Weiterhin würde mich deine Meinung zu dem (Groß)Teil des Artikels interessieren, der sich inhaltlich den ethnischen Unterschieden annimmt. Wenn du bspw. die Infografik ausdruckst und aufhängst, kannst du einen wertvollen Beitrag gegen Biases leisten, ohne den Rest des dir (bis jetzt) nicht gefallenden Artikels lesen zu müssen. Deal? 😉

      Liebe Grüße
      Navid

      1. Übrigens auch ein klassischer rhetorischer Kniff aus der Kiste der Totschlagargumente von radikalen Ideologen: In dieser Sache gäbe es kaum Spielraum für Diskussionen.

        Dass es in Deutschland institutionellen und/oder strukturellen Rassismuss gäbe, ist eine moderne These, die im Rahmen des sozialen Phänomens „Identitätspolitik“ propagiert wird.

        Natürlich gibt es strukturelle Probleme. Doch tatsächliche strukturelle Probleme zeichnen sich dadurch aus, dass die Struktur empirisch/objektiv nachweisbar ist und dass das Problem gleichzeitig durch Änderung der Strukturen lösbar ist. Über diesen tatsächlichen Bereich weit hinausgehend besteht seit BLM und George Floyd leider die von den USA rübergeschwappte Mode der Schein-Objektivierung mittels Gebrauch der Worte „strukturell“ und „Struktur“. Große Ähnlichkeit findet sich in der Kritik am „System“ und der „Strukturellen Gewalt“, entsprungen der Studentenbewegung der 1968er.

        Die wiederkehrende vage sprachliche Figur der „strukturellen Missstände“ oder der „strukturellen Probleme“ wird zum Hebel einer Ideologie.

        Die Historikerin Sandra Kostner schreibt passend, dass der Begriff „Struktureller Rassismus“ zwei Ebenen hat: „Rassismus“ hat eine moralische Funktion, gegen die schwer anzugehen ist; „strukturell“ wird verwendet, „um Rassismus auf eine abstrakte – und damit nicht greif- und belegbare – Ebene zu verlagern“. Sie spricht von einem strategisch günstigen Rassismusbegriff, der nicht von individuellen Handlungen abhängig sei.

        Es entstünde „ein Nichtzufälligkeitsbewusstsein, das sich selbst Realitätsbezug bescheinigt“, beschrieb der Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann „die Feststellung von Strukturen“ beziehungsweise „die Überzeugung, dass es diese Strukturen gibt“.

        Es wird mit strukturellem Rassismus ein Problem thematisiert, das nachfühlbar sein mag, aber in aller Regel nicht oder nur schwer seriös objektivierbar ist. Begriffe wie „Überfremdung“ sind grundsätzlich so wenig quantifizierbar wie „rassistisches Denken“.

        Die Europäische und die UN-Menschenrechtskonvention, die EU-Grundrechtcharta und das Grundgesetz enthalten alle spezifische Diskriminierungsverbote. Höher kann man es nicht hängen. Es hat im Laufe der Geschichte kein Deutschland gegeben, in dem (z. B.) Schwarze, Homosexuelle, Ausländer, Tötowierte, … freier, offener oder mit besserer Chancengleichheit gelebt haben. Eine raketenhafte Verbesserung. Eine gesellschaftliche Normalität, die vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar war.

        Es bleibt mir weiterhin ein Rätsel, wie man von reellen Problemen, wie der Erkennung einer Zyanose bei Schwarzen, zum „strukturellem Rasissmus“ kommen kann. In meinen Augen ein reines Vehikel, um den eigenen Aussagen podiumswirksam mehr Bedeutung beimessen zu wollen. Als wissenschaftlich interessierter Leser habe ich ganz explizit ein Problem mit der Vermischung von ideologielastigen Inhalten und evidenzbasierter Medizin. Als Arzt sollte man es sich verkneifen können, seine politischen Ansichten im professionellen Umfeld zum Thema zu machen und in der Lage sein, fachlichen Austausch von gesellschaftspolitischem Austausch trennen zu können.

      2. Lieber Peter,

        vielen Dank dafür, dass du dir erneut die Zeit für einen langen Kommentar unter diesem Artikel genommen hast.
        Es ist unglaublich bitter: ich habe gerade 1,5 h an einer Antwort geschrieben und sie durch eine falsche Zurück-Bewegung auf meinem Mousepad gelöscht. Ich habe nicht die Zeit, das alles nochmal zu tippen. Auch wenn ich wünschte, dir meine gesamte Antwort schicken zu können, muss ich mich jetzt wohl mit Stichworten begnügen. Vielleicht äußern sich ja noch andere, ansonsten können wir bspw. gerne mal auf dem nächsten DGINA Kongress sprechen.

        Du selbst hast den Fokus auf Politik gelegt, im Artikel geht es nur am Rande und in einem kurzen einleitenden Absatz darum.
        „Inhaltlich sehe ich in den einleitenden Worten wenig Spielraum für Diskussion, bin aber natürlich trotzdem offen für einen Versuch, mich davon zu überzeugen, dass wir keine Probleme mit strukturellem bzw. institutionellem Rassismus haben.“ wird von dir falsch und verkürzt zitiert. Der Versuch, meine Aussagen hierdurch zu diskreditieren ist nicht zulässig.
        Ich stimme dir zu – die Umstände heute sind besser. Ich halte es für ein wünschenswertes Ziel, dass du diese Aussage auch in 40 Jahren wieder treffen kannst, wenn du den Vergleich mit heute anstellen kannst.
        Die Aussagen der von dir zitierten Personen sind nicht falsifizierbar und können genau so gut Generalisierungen persönlicher Erklärungsansätze darstellen. Sie werden deiner Forderung nach Objektivierung in keiner Weise gerecht. Zudem wird hier der objektivierbare (!) Charakter vieler Probleme von Menschen mit dunkler Haut negiert (siehe bspw. Quellen und Weiterführendes)
        Wenn wir Antidiskrimierungsgesetze auf der einen und objektivierbare Diskriminierung auf der anderen Seite haben – was könnte dann das Delta sein? Dazwischen stehender struktureller Rassismus?

        Liebe Grüße
        Navid

  5. Lieber Navid!

    Vielen Dank für diesen äusserst wichtigen medizinischen und gesellschaftlichen Beitrag. Ich möchte in diesem Zusammenhang einmal auf einen weiteren prähospitalen /ambulanten und stationären Bias hinweisen und diesen mit diesem Kommentar in unser aller Bewusstsein rücken:
    Den Ableismus. Er kostet tatsächlich Menschenleben. Hier etwas Literatur dazu:

    https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp2212109

    https://www.npr.org/2020/07/31/896882268/one-mans-covid-19-death-raises-the-worst-fears-of-many-people-with-disabilities

    https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion/ableismus

    https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp2302561

    Viele Grüsse, Stefan

    1. Lieber Stefan,

      vielen herzlichen Dank für deinen Kommentar und die Ergänzungen.

      Liebe Grüße
      Navid

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